Der autodidaktische Sexologe
Ein „alter Sack“ auf „Propofol“: Corinna T. Sievers lässt kein sexistisches Klischee aus
Von Oliver Pfohlmann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseVon dem Narkosemittel Propofol haben die meisten wohl erstmals nach dem Tod von Michael Jackson gehört. Der „King of Pop“ ließ sich die Droge, seine „Milch“, allabendlich von seinem Arzt verabreichen, um besser einschlafen zu können. Erfahrene Nutzer wie Bernhard Rohr, der Ich-Erzähler von Corinna T. Sievers neuem Roman, wissen dagegen, dass das Medikament nicht nur als Schlafmittel taugt: Es macht angstfrei, euphorisch und führt nicht zuletzt zu sexueller Enthemmung.
Nur bei der Dosierung muss man höllisch aufpassen, jedenfalls, wenn man anders als Michael Jackson nach dem Rausch wieder aufwachen will. Oder wenn man nicht, wie Sievers Protagonist, wegen „Fahrlässigkeit“ seine Karriere, sein Vermögen und um ein Haar auch seine bürgerliche Freiheit verlieren will. Bis zu dem ominösen „Ereignis“, auf das Sievers Roman erbarmungslos zuläuft, war der Mittsechziger der Starchirurg einer Berliner Kinderklinik und auf dem besten Weg in den Medizin-Olymp.
Anfangs nahm er das für ihn jederzeit verfügbare Medikament, um nach stundenlangen OPs vom Adrenalinrausch herunterzukommen und den Wechsel vom Halbgott-in-Weiß-Modus in die Familienvater-Rolle zu handeln. In der Gegenwart, in der er unter Berufung auf Freuds Sublimationstheorie an einem autobiografischen Arztroman mit dem Titel Propofol schreibt, spritzt er sich das Anästhetikum vor allem, um mit den Demütigungen des Alters zurechtzukommen. Soll heißen: um sein angekratztes Männer-Ego aufzumöbeln, in der zunehmend vager werdenden Hoffnung, trotz seines Absturzes beim anderen Geschlecht noch einmal zum Zuge zu kommen. Denn: „ich bin überzeugt, ein Mann ist das Produkt seines Sexlebens, läuft da was, läuft alles andere“.
Die Autorin lässt ihre Hauptfigur mit dem sprechenden Namen jedes erdenkliche sexistische Klischee über einen „alten Sack“ (so Rohr über sich selbst) erfüllen, nicht zuletzt das ständige Abchecken von Frauen auf ihre, man muss es so sagen, ‚Fuckability’ hin – ob der „autodidaktische Sexologe“ die eigene Geliebte als „abgetakelte Fregatte“ bewertet („ich bin zu schwach, sie zu verlassen“), eine Stationsschwester als „bewährte, gänzlich geschlechtslose Kraft“ oder im Gespräch mit einer Partybekanntschaft über die Brüste menopausaler Frauen meditiert.
Erträglich ist das trotz aller ermüdenden Redundanz eigentlich nur, weil der Ich-Erzähler denselben gnadenlosen Blick auch auf sich selbst richtet. Das führt mitunter zu überraschend komischen Effekten, etwa wenn Rohr sich in Schamgefühlen über seinen Altmännergeruch ergeht und sich deshalb kaum noch traut, sich Frauen zu nähern, wenn er sich einbildet, sein inzwischen ohnehin höchst unzuverlässig gewordener bester Freund habe altersbedingt mindestens zwei Zentimeter an „lichter Höhe“ eingebüßt, oder er überhaupt resigniert erkennt, dass sich vor ihm, dem einstigen Womanizer, inzwischen „die Mösen […] verschließen wie die Kelche der Mimose“. Vielleicht deshalb findet seine letzte Flamme, Coco, eine Zahnärztin Mitte fünfzig, er erinnere sie an „Oliver Hardy“, so abwegig dieser Vergleich auch sonst erscheint.
Möglich, dass es sich bei besagter Coco um das Alter Ego der Autorin, Jahrgang 1965 und Fachärztin für Kieferchirurgie, handeln soll; für Rohr spielt Coco in ihrer Lebensmüdigkeit und Todesfaszination jedenfalls eine eher fatale Rolle. Und wirkt wie eine gealterte Wiedergängerin weiblicher Hauptfiguren früherer Sievers-Romane: Ob es sich um die Fachärztin für Schönheitschirurgie Margarete in Die Halbwertszeit der Liebe (2016) handelte oder um die Zahnärztin Judith in Vor der Flut (2019), stets verkörperten Sievers Protagonistinnen einen zumindest erzählerisch erfrischenden weiblichen Sexismus.
Von daher also ist die Hauptfigur Bernhard Rohr als erzählerischer Rückschritt zu werten. Spannung bei der Lektüre kommt nur deshalb auf, weil der Chirurg in Rückblenden besagtes „Ereignis“ erinnert, das sein Leben in ein Davor und ein Danach trennen sollte, die bevorstehende Trennung zweier siamesischer Zwillinge, die für Rohr das „Objekt [s]eines brennenden Ehrgeizes“ wurden: „Ich musste mir das, was noch an Saft vorhanden war, für die Operation meines Lebens aufsparen, mir würde Ruhm bis ans Totenbett und darüber hinaus winken, aber wenn ich scheitern würde, so richtig scheitern, wäre ich für immer erledigt.“ Schon von der ersten Seite an ist klar, wie die Sache ausgehen wird.
Die Debatten der Ethik-Kommission darüber, ob es erlaubt oder sogar geboten sei, unter Umständen einen der Zwillinge zu opfern, werden von der Autorin gekonnt erzählt; die Szene, in der der Ich-Erzähler Coco und ihrer 16-jährigen Tochter einen Crashkurs in Sachen Philosophie und Tod gibt, ist eine herrliche Satire auf die Praxis des Mansplainings. Und von bitterer Komik ist die Passage, in der Rohr mit seinem besten Freund Martin, dem Chef der Anästhesiologie, unterwegs zu den Eltern der Zwillinge über die sexuellen Vorzüge von Martins neuester Eroberung fachsimpelt, ehe die beiden Ärzte, natürlich voller professioneller Empathie, ihre schlechten Nachrichten überbringen.
Über die Eltern der Zwillinge, die aus dem Kongo stammen und dort in Uranminen arbeiten, schließt die Autorin ihren Roman mit den Debatten um Postkolonialismus und Rassismuskritik kurz. Denn richtig: Ein „alter (und weißer) Sack“ voller Selbstmitleid allein wäre einfach nur langweilig, aber vor dem Hintergrund des Leids dieser Eltern, die eine unvorstellbare Entscheidung treffen müssen, ist er schlichtweg unerträglich – das aber auf eine literarisch durchaus lesenswerte Weise.
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