Einer der großen Satiriker der amerikanischen Nachkriegsliteratur
Zum 100. Geburtstag von Joseph Heller
Von Manfred Orlick
In den letzten Monaten war der 100. Geburtstag zweier amerikanischer Schriftsteller: Kurt Vonnegut (1922-2007) und Norman Mailer (1923-2007). Nun folgt mit Joseph Heller (1923-1999) ein weiterer amerikanischer Autor, der ebenfalls vor allem mit einem Antikriegsroman in Erinnerung bleibt. Sein Name wird zumeist mit seinem zynisch-satirischen Roman Catch-22 aus dem Jahre 1961 in Verbindung gebracht, der die Absurdität des Zweiten Weltkriegs auf den Punkt brachte. Mit seiner antimilitaristischen Haltung und kritischen Schärfe kann er den bedeutenden amerikanischen Antikriegsromanen wie Mailers Die Nackten und die Toten (1948), Vonneguts Schlachthof 5 oder Der Kinderkreuzzug (1969) oder der Pazifik-Trilogie von James Jones (1921-1977) an die Seite gestellt werden.
Joseph Heller wurde am 1. Mai 1923 im Stadtteil Coney Island in Brooklyn, New York, als Sohn armer jüdischer Einwanderer aus Russland geboren. Der Vater verstarb bereits 1929, als Joseph gerade in die Coney Island Public School eingeschult wurde. Bereits während der Schulzeit schrieb er erste Geschichten. Nach seinem Abschluss an der Abraham Lincoln High School im Jahr 1941 war er kurzzeitig Sachbearbeiter einer Versicherungsagentur. Als die Vereinigten Staaten dann im Dezember in den Zweiten Weltkrieg eintraten, arbeitete Heller zunächst als Hilfsarbeiter in einer Werft der Kriegsmarine. Im Oktober 1942 meldete er sich beim US Army Air Corps und nach einer zweijährigen Ausbildung wurde er an die italienische Front versetzt, wo er sechzig Bomberflüge absolvierte.
Nach dem Krieg studierte Heller Englisch an verschiedenen amerikanischen Universitäten und lehrte nach seinem Abschluss von 1950 bis 1952 an der Pennsylvania State University. Anschließend arbeitete er kurz bei der Zeitschrift Time Inc., bevor er eine Stelle als Werbetexter in einer kleinen Werbeagentur annahm. Nebenbei schrieb Heller erste Kurzgeschichten, die er in Zeitschriften und Magazinen veröffentlichen konnte. Bereits 1953 verfasste er das erste Kapitel von Catch-22 (noch unter dem Titel Catch-18), das zwei Jahre später in der Anthologie New World Writing veröffentlicht wurde. Danach ließ er das Projekt ruhen und machte sich zunächst auf die Suche nach einem Verlag, der Interesse an dem Manuskript haben würde. So erschien der Roman nach jahrelanger Verzögerung erst 1961.
In seinem Debütroman Catch-22 (dt. 1964, auch unter dem Titel IKS-Haken) verarbeitete Heller die eigenen Erfahrungen aus seiner Militärzeit und den Nachkriegsjahren. Schauplatz ist die fiktive italienische Mittelmeerinsel Pianosa, wo der US-Hauptmann John Yossarian als Pilot einer Luftwaffenstaffel stationiert ist, doch genug hat vom Krieg und dem fragwürdigen Heroismus. Daher hat er „beschlossen, ewig zu leben“, und will keine Einsätze mehr fliegen. Da nach den Militärvorschriften jeder Soldat, der geisteskrank geworden ist, aus der Armee entlassen wird, spielt Yossarian nun den Verrückten. Er hofft, auf diese Weise für fluguntauglich geschrieben und nach Hause geschickt zu werden; also denkt er sich immer neue Krankheitssymptome aus oder erscheint nackt zu einer Ordensverleihung.
Yossarián konnte sich jederzeit, wenn er Lust dazu hatte, ins Lazarett flüchten. Das lag an seiner Leber und seinen Augen; die Ärzte vermochten sich über den Zustand seiner Leber nicht klarzuwerden und ihm auch nicht gerade ins Auge zu sehen, wenn er ihnen von seinen Leberbeschwerden erzählte. Es machte ihm Spaß, im Lazarett zu liegen, solange auf seiner Station nicht jemand auftauchte, der wirklich krank war. Seine Gesundheit war stabil genug, um die Malaria oder Influenza anderer Patienten ohne größere Beeinträchtigung zu ertragen. Er erlitt anderer Leute Mandeloperationen ohne irgendwelche postoperativen Beschwerden und ertrug sogar fremde Bruchleiden und Hämorrhoiden mit einem Minimum von Ekel und Widerwillen. Aber weiter durfte er nicht gehen, ohne fürchten zu müssen, wirklich krank zu werden. Kam es schlimmer, so ergriff er die Flucht. Im Lazarett konnte er sich ausruhen, denn man erwartete nicht von ihm, daß er etwas tue. Im Lazarett erwartete man von ihm einzig, daß er sterbe oder sein Befinden bessere, und da er schon bei der Aufnahme völlig gesund war, fiel es ihm nicht schwer, sein Befinden zu bessern.
Die Dienstvorschrift hat jedoch einen Haken, den X-Haken: Der Wunsch, sich vom Fronteinsatz zu drücken, ist ein klares Indiz für einen gesunden Menschenverstand und führt daher nicht zur Entlassung. Neben dem Antihelden Yossarian tritt noch eine Reihe weiterer Protagonisten auf, die recht unterschiedliche Einstellungen zum Krieg haben. So betreibt der skrupellose Versorgungsoffizier Milo Minderbinder einen Schwarzmarkt und lässt für Geld sogar die eigenen Leute bombardieren, während der exzentrische General Dreedle vor allem an Bombenteppichen interessiert ist, die sich auf den Luftaufnahmen gut machen.
Im Mittelpunkt des Romans steht nicht das Kriegsgeschehen, vielmehr versuchte Heller mit extremer Zuspitzung, das Gewinnstreben, die Spekulationssucht und das verbrecherische Spiel mit der Macht zu entlarven. Trotz der grotesken Übersteigerungen treffen die Darstellungen immer den Kern der Dinge. Der widersinnigen Welt wird auf gleiche widersinnige Weise begegnet – ähnlich wie bei der Kriegssatire Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk während des Weltkriegs des tschechischen Schriftstellers Jaroslav Hašek (1883-1923). Catch-22 war eine Reaktion auf den Kalten Krieg in den 1950er Jahren. Bei der Veröffentlichung zunächst sehr umstritten, wurde der Roman später zum Kultbuch einer ganzen Generation – vor allem während des Vietnam-Krieges. Zu diesem Erfolg trug auch wesentlich (neben einer Dramatisierung durch Heller) die Verfilmung 1970 durch Mike Nichols bei. Inzwischen gilt das Buch als „Ikone“ und Meilenstein der modernen amerikanischen Literatur.
Waren vom ersten Kapitel bis zur Fertigstellung des Romans acht Jahre vergangen, so brauchte Heller über zwölf Jahre, um seinen zweiten Roman Something Happened (1974, dt. Was geschah mit Slocum, 1975) vorzulegen. Der Roman ist eigentlich die Innenperspektive des zynischen Neurotikers Bob Slocum, der im mittleren Management einer nicht näher beschriebenen New Yorker Firma beschäftigt ist.
In meinem Büro gibt es fünf Personen, vor denen ich mich fürchte. Von diesen fünfen fürchtet jeder vier andere Personen (Überschneidungen nicht gerechnet), was zusammen zwanzig macht; jeder von diesen zwanzig wiederum fürchtet sechs weitere Personen, das macht insgesamt einhundertzwanzig Personen, die von mindestens je einer Person gefürchtet werden. Jeder von diesen einhundertzwanzig fürchtet sich vor den restlichen einhundertneunzehn Personen, und alle diese einhundertfünfundvierzig fürchten sich vor den zwölf Männern an der Spitze, den Gründern und derzeitigen Eigentümern des Unternehmens.
Diese zwölf Männer sind nun allesamt ältlich; die Jahre und der Erfolg haben ihre Energien und ihren Ehrgeiz aufgezehrt. Manche haben ihr ganzes Leben in der Firma verbracht.
Slocum ist verheiratet, hat eine alkoholkranke Ehefrau, drei Kinder, zwei Autos und ein Haus im Grünen; doch im Grunde genommen ist er ein eitler und langweiliger Kriecher, gefangen in seinem auf rücksichtsloses Machtstreben ausgerichteten Beruf. Dazu hegt er Ressentiments gegen jedermann. Slocums Nabelschau auf sein deprimierendes Familien- und Berufsleben ist eine Satire auf die zeitgenössischen sozialen Verhältnisse in den USA.
1976 folgte dann der Roman Good as Gold (dt. Gut wie Gold, 1979), die Geschichte des jüdischen Literaturwissenschaftlers Bruce Gold. Der 48-jährige Universitätsprofessor aus Brooklyn schreibt nebenbei Bücher und hält Vorträge, um das College seiner Kinder finanzieren zu können. Da macht ihm sein ehemaliger Studienkollege Ralph Newsome Hoffnung auf einen Posten in der Nähe des US-Präsidenten, der ihn wohl sehr schätzt und immer wieder Auszüge aus seinen Büchern in seine Reden einfließen lässt.
„Ich habe unterdessen überlegt, ob ich Oberkommandierender der NATO, Verteidigungsminister, Direktor der CIA oder des FBI, Marine-, Heeres- oder Luftwaffenminister werden möchte – falls es dafür nicht zu spät ist?“
„Nein, selbstverständlich nicht“, sagte Ralph, „es sei denn, es wäre bereits zu spät. Gesundheit, Bildung und Wohlfahrt hatten wir, glaube ich, schon erörtert?“
„Ich interessiere mich einzig für meine eigene.“
Für die Aussicht auf ein hohes politisches Amt geht Gold nach Washington, wo um Ämter und Posten geschachert wird. Gold spekuliert sogar mit dem Außenministerposten, der dann jedoch mit Henry Kissinger besetzt wird. So bleibt ihm nichts weiter übrig, als enttäuscht zu seiner Familie zurückzukehren. Good as Gold ist eine Satire auf das politische Establishment in Washington mit seiner Hohlheit und Verlogenheit; vor allem Kissingers Verhalten während des Chile-Putsches und des Vietnamkrieges wird scharf kritisiert.
Hellers nächster Roman Closing Time (1994, dt. Endzeit, 1994) erschien 33 Jahre nach Catch-22 und war gewissermaßen eine Fortsetzung seines Erstlings. Neben der Hauptfigur aus Catch-22, dem BomberpiIoten Yossarian, tauchen auch andere ehemalige Luftwaffenkameraden wieder auf; alle um fünf Jahrzehnte gealtert. Yossarian, inzwischen ein wohlhabender Pensionär und ewig pubertierender Frauenheld, ist genau die Art von Mann geworden, die er in seiner Jugend verachtet hat.
Er verdiente auch Geld, indem er Klienten profitabel privat beriet, Honorare, Prozente und Vermittlungsgebühren kassierte und in bescheidenem Umfang an verschiedenen vorteilhaften Grundstücksprojekten teilnahm, die er nie begriff. Als sich die nationalen Verhältnisse wieder zum Bedrohlichen wandten, ging er schließlich als von quälenden Sorgen geplagter Vater zu seinem alten Kriegsbekannten Milo Minderbinder. Milo war hochzufrieden, ihn zu sehen.
Kumpel Milo versorgt Yossarian schließlich als PR-Manager mit einem hochdotierten Beratervertrag in seinem Rüstungsimperium. Außerdem soll Yossarian einen New Yorker Bus Terminal, sonst Aufenthaltsort für Obdachlose, Drogendealer und andere Ganoven, zur Location für eine Superreichen-Hochzeit umfunktionieren.
Mit bösem Sarkasmus zeichnete Heller hier das bittere Bild amerikanischer Wirklichkeit Anfang der 1990er Jahre. Neben den Lebensbeichten der Kriegsveteranen mit ihren persönlichen Erlebnissen setzt er sich kritisch mit der US-amerikanischen Nachkriegsgeschichte auseinander. In einem Interview äußerte er einmal: „Endzeit ist ein sehr missbilligender, verurteilender Blick auf fast alles, was in der amerikanischen Kultur und Gesellschaft passiert.“
1981 erkrankte Joseph Heller am Guillan-Barré-Syndrom, was zu einer zeitweisen Lähmung führte. 1998 veröffentlichte er seine Memoiren Now and Then: From Coney Island to Here (dt. Einst und Jetzt, 1999). Joseph Heller starb am 12. Dezember 1999 in East Hampton, kurz nachdem er die Arbeit an seinem letzten (autobiographisch gefärbten) Roman Portrait of an Artist as an Old Man beendet hatte, der ein Jahr später posthum erschien.
Während die Kurt Vonnegut- und Norman Mailer-Jubiläen mit einigen Neuerscheinungen gewürdigt wurden, vermisst man diese leider bei Joseph Heller gänzlich. Überhaupt sind seit teilweise über zwanzig Jahren keine deutschen Nachauflagen oder Neuübersetzungen seiner Werke erschienen. Dazu wäre Hellers 100. Geburtstag ein willkommener Anlass gewesen.
Anmerkungen
Die Zitate wurden entnommen aus:
- Joseph Heller: Der IKS-Haken (Übersetzung Irene und Günther Danehl), Verlag Volk und Welt 1973.
- Joseph Heller: Was geschah mit Slocum (Übersetzung Günther Danehl), S. Fischer 1995.
- Joseph Heller: Gut wie Gold (Übersetzung Günther Danehl), Verlag Volk und Welt 1982.
- Joseph Heller: Endzeit (Übersetzung Joachim Kalka), S. Fischer 1994.