Nachrichten aus der Welt des habituellen Obenbleibens
Urte Stobbe und Claude D. Conter geben einen Sammelband über den österreichischen und den deutschen Adel im Vormärz heraus
Von Jens Flemming
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEs sind die Jahrzehnte zwischen zwei revolutionären Eruptionen, in denen die Themen und die Protagonisten des von Urte Stobbe und Claude D. Conter zusammengestellten Bandes sich bewegten: der französischen Revolution von 1789 und der europäischen von 1848. Auf hergebrachte gesellschaftliche Ordnungen richteten sich zunehmend kritische Blicke. Im Kern ging es um Machtfragen, um Fragen der politischen Partizipation, der bürgerlichen Teilhabe und Mitwirkung in Entscheidungsprozessen. Nötig waren dazu Veränderungen im politischen Gefüge, die dergleichen Ansprüche und Erwartungen abstützen und sichern würden. Dies freilich griff ein in überlieferte Traditionen, mit denen der Adel üblicherweise seine Privilegien und seine Herrschaftsambitionen legitimierte. Offen war, wie er sich in unstet gewordenen Zeiten würde behaupten, nicht zuletzt seinen Drang, materiell wie symbol- und standespolitisch seine Positionen würde bewahren können. Die Devise lautete, Dämme gegen einen tatsächlichen oder nur eingebildeten Abstieg zu errichten, dabei über Strategien nachzusinnen, wie der Wunsch, oben zu bleiben, den eigenen Status wie den der Familie zu behaupten, zweckdienlich organisiert und feilgeboten werden könnte. Aus der Politik war er nach wie vor nicht wegzudenken, aber die Rolle, die er innehatte und für sich reklamierte, war strittig geworden, ein Gegenstand kontroverser Debatten. Wann und wie sie enden würden, war nicht abzusehen.
In diesem Spektrum zu Hause ist „Adligkeit“, ein Schlüsselbegriff der modernen Forschung, verstanden immer auch als „soziale und kulturelle Praxis“, so vor etlichen Jahren schon der Historiker Heinz Reif, ein Kenner der Materie, den die Herausgeber in diesem Zusammenhang zu Recht zitieren. Exemplifiziert wird das an Beispielen aus Österreich und Deutschland. Im Vordergrund stehen einzelne Personen und das Umfeld, dem sie entstammten, begleitet von dem Bedürfnis, sich entweder zu distanzieren oder sich ausdrücklich zugehörig zu fühlen. In der Mehrheit sind es Literaten, Reiseschriftsteller, Lyriker und Romanciers. Aufgeschlüsselt werden Bekundungen der Exklusivität, Modalitäten von standes- und unstandesgemäßem Verhalten. Das Augenmerk richtet sich unter anderem auf den Habitus der Protagonisten, auch auf Konflikte zwischen adeligen Prätentionen und Autorschaft. Stärkeres Interesse als die sozialen finden die kulturellen Komponenten.
„Adelsgeschichte“ sei „hochkomplex“, notieren die Herausgeber, schon deshalb, weil der Adel eine in sich „überaus heterogene Sozialformation“ darstellte. Die empirisch hinreichend abgestützten Beiträge liefern dafür das nötige Anschauungsmaterial. Den Anfang machen in einem ersten Teil Überlegungen zu Form und Stil „adliger Selbstvergewisserung“. Franz M. Eybl wendet sich dem „Gotha“ zu, jenem Periodikum, das nach Rang abgestufte Adelspersonen verzeichnet, ein nützliches Mittel der Information über das in den verschiedenen Sphären anzutreffende Personal. Der Autor nennt es ein „publizistisches Organ des Adels“ mit „markanter Leserbindung“, ein „Spiegel“ seiner selbst und „Projektionsfläche“ von Angehörigen bürgerlicher Schichten, die der Wunsch antreibt, in die höheren Stände emporgehoben zu werden.
Ein zweites Medium beschreibt Bernd Füllner, und zwar die 1839 begründete, bis 1844 erscheinende Zeitung für den deutschen Adel. Deren Ziel war es, „die moralische Erneuerung adliger Lebensführung zu befördern“, um damit eine „ideologische Legitimierung und Neuformierung“ auf den Weg zu bringen. Aus Kreisen der Jungdeutschen war der Seufzer zu hören, das habe gerade noch „gefehlt“, und Friedrich Engels sang im April 1840 ein „Requiem“, ein Text des Spotts und der Verachtung. Marion Dotters Aufsatz über Nobilitierungsgesuche, adressiert an den kaiserlichen Hof in Wien, über das „sich adelig schreiben“, gewährt Einblicke in die zu beachtenden Formalia und die erwarteten Anforderungen. „Habsburgische Tradition“, die sich am Prinzip der Kontinuität orientierte, war das eine, Nützlichkeit für das Gemeinwesen, die sich im – bürgerlichen – Leistungsethos manifestierte, das andere. Mit solcherart Symbolpolitik glaubte man, Werte des Bürgertums und monarchische Loyalität, Leistungsdenken und kaisertreue Gesinnung, individuelle Reputation und staatliches Wohl miteinander zu verstreben, das heißt, einem relativ instabilen, ethnisch heterogenen Gemeinwesen tragfähige Fundamente für die Zukunft zu verleihen.
Die beiden sich anschließenden Teile des Buches lenken das Augenmerk auf „adlige Salons“ und schreibende Adlige. Wie zwei Bürgersleute, Georg Forster, eine Zeitlang Professor für Naturgeschichte am Collegium Carolinum in Kassel, und der Musiker Johann Friedrich Reichardt in Häusern der Wiener Hocharistokratie verkehrten, beleuchtet Martin Eybl. Man begegnete ihnen mit „Herablassung“, was damals anders konnotiert war als heute: kein Ausdruck der Geringschätzung, sondern ein Zeichen von „Größe“. Denn, so der Verfasser: „Herablassung reißt die Klassenschranken nicht ein“, sondern „lässt sie für einen Moment außer Acht“, ermöglicht insofern zwanglose Begegnungen und zwanglose Kommunikation ohne Absicht standespolitischer Vermischung. Dass adelige Schriftsteller Probleme hatten, ihre Positionen zu erklären und ihr Tun zu rechtfertigen, zeigt Karin S. Wozonig am Fall der Dichterin Betty Paoli und dem Fürsten Friedrich von Schwarzenberg, der sich als rückwärtsgewandter Erzähler inszenierte, dabei bewusst das „Unzeitgemäße als Kontrast zum modernen bürgerlichen Leben“ betonend.
Über Franz Schubert und das von den „kulturellen Aktivitäten der Aristokratie“ geprägte Musikleben in Wien schreibt Andrea Lindmayr-Brandl. „Die Tonkunst“, zitiert sie einen Angehörigen des niederen Adels, bewirke ein „Wunder“, das sonst nur der Liebe zugutegehalten werde: Sie mache „alle Stände gleich.“ Deren Vertreter nämlich säßen zusammen und vergäßen „über der Harmonie der Töne die Disharmonie ihres Standes.“ Die „bürgerlichen Musiksalons“, die nach 1800 in Mode kamen, verdrängten allerdings die älteren adeligen Bemühungen nicht. Und doch: Die Bedeutung des Adels nimmt allmählich ab, um die Mitte des Jahrhunderts zieht er sich aus dem „öffentlichen Musikleben“ der Stadt zurück. „Selbstpraktizierende Musikliebhaber“ werden nach und nach abgelöst von „professionellen Künstlern“.
Zu denen, welche die Schriftstellerei zum „Lebensberuf“ erkoren, gehörte, um nur diesen noch zu erwähnen, Alexander von Sternberg. Für ihn, dem sich Rolf Haaser zuwendet, hieß „Obenbleiben“, sich „auf dem literarischen Markt“ zu etablieren. Der Jungdeutsche Theodor Mundt glaubte in dessen Hervorbringungen allerdings nur einen „Industrie-Adel“ zu erkennen, der sich nun auch in der Literatur breit mache. Und Georg Herwegh war überzeugt, dass die Uhr für „standesherrliche Poesie“, für die „Poesie der ersten Kammer“, abgelaufen sei: Poesie habe es „fortan nur mit Menschen, nicht mit Wappenvögeln zu tun.“ Das war nicht nur, aber doch auch eine Form des standespolitischen Kampfes. Die vormärzliche Aversion gegen die Adelsherrschaft äußerte sich hier im Gewand einer Kritik, die über Literatur im engeren Sinne weit hinausgriff. Nicht dass die Dominanz des Adels damit ans Ende gelangte, aber ein Thema, aus dem Polarisierung, mehr noch: nachhaltige Politisierung herauswuchs, war es allemal, und zwar unwiderruflich.
|
||