Stifter forever!

Peter Becher legt mit „Unter dem Steinernen Meer“ einen raffinierten Roman über das prekäre Verhältnis von Deutschen und Tschechen vor

Von Klaus HübnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hübner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sein Lebensthema, auch ein gewichtiger Teil seiner eigenen Familiengeschichte, war und ist die deutsch-tschechische Aussöhnung nach den Umbrüchen von 1945 und 1990. Peter Becher, gerade 70 Jahre alt geworden, gestaltete und prägte seit 1986 die Arbeit des Adalbert Stifter Vereins in München und ist dem an Böhmischem interessierten Publikum seit Langem als kenntnisreicher Historiker und eleganter Essayist bekannt. Seinem sehr persönlichen, passagenweise brillanten Prager Tagebuch (2021) lässt er nun einen Roman folgen, der, wie schon das schöne Cover verrät, seine zentralen Schauplätze in und um die Stadt Budweis (Ĉeské Budějovice) hat. Wozu man auch Oberplan (Horní Planá) rechnen darf, wo 1805 der große Adalbert Stifter geboren wurde, das Tal der jungen Moldau bis Krumau (Ĉesky Krumlov) und das böhmisch-oberösterreichisch-bayerische Dreiländereck an Plöckenstein und Dreisessel. Und das titelgebende Steinerne Meer – die dortige Gebirgslandschaft natürlich, nicht etwa die weitaus bekanntere salzburgisch-oberbayerische. Peter Becher kennt nahezu alles, was sich in den letzten Jahrhunderten – und speziell im 20. Jahrhundert – dort ereignet hat, und in seinem Roman erzählt er davon. Auf weite Strecken tut er das sehr detailliert, ungemein dicht, interessant, lehrreich, auch spannend. Ist Unter dem Steinernen Meer also ein guter Roman geworden? Eher schon. Ein lesenswerter allemal.

Am 1. Mai 1991 findet man in den steirischen Bergen einen Toten, und es stellt sich heraus, dass es der Vater von Thomas und Andreas Tomaschek ist. Niemals hatte er seinen Söhnen von seiner Heimat Budweis erzählt.

Keine Sentimentalitäten, hatte er gesagt, aus und vorbei. Und auf einmal war er losgezogen, zu Fuß über die Grenze, kaum dass der Eiserne Vorhang gefallen war. Aber warum, warum nur? … Vielleicht, sagte sich Andreas, hätten wir ihn öfters fragen sollen …

Doch die Söhne waren fixiert auf die Mutter und deren steirische Verwandtschaft, und so wird der Vater auch im Familiengrab in Weiz beigesetzt. Dass es zwischen dem Verstorbenen und Thomas immer wieder gewaltig gekracht hatte, vor allem in den 1970er-Jahren, wird bereits in der Rahmenhandlung klar – Unter dem Steinernen Meer ist auch eine posthume Auseinandersetzung des Sohnes mit dem Vater. Wer war der Mann, der sich im Juli 1990 „plötzlich an all das erinnerte, als ob es Gegenwart wäre“ – und sich auf den Weg ins Stifterland machte? Genau das ist das Thema dieses Romans, das in einer oft überraschenden, immer wieder zwischen 1935, 1945 und 1991 changierenden Erzählbewegung allmählich entwickelt wird.

Der in einer Budweiser Arztfamilie aufgewachsene Karl Tomaschek wollte unbedingt zur Mehrheit gehören – zu den Jungturnern und Wandervögeln, deren Feind der tschechische Sokol war und aus denen später die Hitlerjugend wurde, zur vor „Olympiabegeisterung“ strotzenden, die politischen Vorgänge im „Reich“ gebannt verfolgenden Mehrheit der Sudetendeutschen. Zunächst blieb es einigermaßen ruhig, Tomaschek hatte auch nicht-deutsche Freunde und war bis über beide Ohren verliebt. „Hatte irgendjemand etwas gegen Tschechen, gegen Deutsche, gegen Juden?“ Das blieb nicht mehr lange so, und der verwirrte alte Schweijda, der eine „eiserne Platte“ im Schädel hatte, mit seinem knatternden Praga Alfa auf den Marktplatz raste und seine Hühner hypnotisierte, hat es lange vorausgesehen:

A Pán Bůh říká, ein Gewitter wird kommen, wie ihr es noch nie erlebt habt, und auf dem Platz hier werden Soldaten marschieren, raz, dva, raz, dva, raz, dva … der Krieg kommt, er kommt!

 Spätestens 1938 spitzte sich die Lage zu. Im Deutschunterricht wurde verbissen darum gestritten, ob Adalbert Stifter „deutsch in jeder Faser seines Wesens“ gewesen sei, wie das der Prager Germanist August Sauer behauptet hatte. Das war noch harmlos, verglichen mit dem, was bald folgte. „Wie alle anderen wollte Tomaschek sich in den Dienst des Führers stellen und für das deutsche Volk kämpfen …“ Der Krieg kam, die Tschechen wurden unterdrückt und drangsaliert, die Judendeportationen begannen – bis sich 1945 alles umdrehte und die Sudetendeutschen von heute auf morgen zu Opfern des tschechischen Terrors wurden.

Das alles ist bekannt, wenn auch nicht in den konkreten Konstellationen, die der Autor hier ausbreitet. Karl Tomaschek nämlich sieht sich in einem Oberplaner Wirtshaus mit den fanatischsten Schlägern und Mördern von damals konfrontiert, und in einem intensiven tschechisch-deutschen Gegenrechnungs- und Aufarbeitungsdialog wird kein Detail ausgelassen – der Literat Peter Becher, für den literarische Figuren eigentlich mehr sein sollten als Sprachrohre der Zeitgeschichte, verschwindet weitgehend hinter dem Historiker. Wobei er durchaus auch zu Tränen rührende Szenen zu schildern weiß, etwa den Bericht über das unvermutete Wiedersehen mit einer älteren Dame aus Haifa, die einmal das jüdische Nachbarmädchen Elsa war und das Grauen auf wundersame Art und Weise überlebt hatte. Auch die Karl Tomaschek lebenslang traumatisierende Schlüsselszene, die im Abschnitt Unter dem Steinernen Meer geschildert wird und mit der vordergründig geglückten Flucht nach Bayern endet. Oder die Endspiel in Budweis überschriebene, fast surreale Traumsequenz. Was bleibt, ist die Einsicht, dass jegliche Erinnerung trügerisch ist und es die Perspektiven der anderen zu akzeptieren gilt. Und dass all das schon lange her ist:

Er glaubte, nicht fortzugehen, sondern heimzugehen, er dachte, in seine alte Heimat zurückkehren zu können. In Wirklichkeit hat er seine Söhne verlassen und seine alte Heimat nicht gefunden, weil sie längst nicht mehr existierte.

Am Ende schließt sich der Erzählrahmen: Mai 1991, Beerdigung von Karl Tomaschek, Kindheitserinnerungen der Söhne. Noch einmal wird deutlich gemacht, wie wirkmächtig der Vater war und ist. Und wie sehr ihn die Söhne geliebt haben. Möge er ruhen in Frieden, und möge Peter Bechers mit diesem Roman fortgeführtes Lebenswerk Entscheidendes zur dauerhaften Versöhnung von Tschechen und Deutschen beigetragen haben.

Anmerkung der Redaktion: Der Text erschien zuerst in Literatur in Bayern Nr. 151.

Titelbild

Peter Becher: Unter dem Steinernen Meer. Ein deutsch-tschechischer Roman.
Vitalis Buchverlag, Prag 2022.
195 Seiten , 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783899196467

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