Neun Personen warten auf ihren Mörder

Mit seinem aktuellen Roman „Neun Leben“ beweist Peter Swanson einmal mehr, dass Rätselkrimis nach klassischem Muster auch heute noch funktionieren können

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Neun Menschen, die ansonsten nichts miteinander verbindet, finden sich eines Tages zusammen auf einer Liste wieder. Einer Liste, die jeder von ihnen zugeschickt bekommt, ohne dass man weiß, wer der Absender ist und welchen Zweck der verfolgt. Nur Caroline Geddes, Englisch-Professorin an der University of Michigan in Ann Arbor und vielleicht durch Agatha-Christie-Lektüre nicht unvertraut mit der Situation, hat bereits eine dunkle Ahnung: „Es ist eine Todesliste. Jemand hat uns zum Sterben bestimmt.“ Aber warum gerade diese neun Personen? Ein erfolgloser Schauspieler, ein Musiker, ein Krankenpfleger, verschiedene Geschäftsleute, ein Barbesitzer, der sich zur Ruhe gesetzt hat, und sogar eine FBI-Agentin, die mit dem Tod zu bedrohen massiven Ärger geradezu garantiert? Aber es geschieht tatsächlich, was der Professorin als Erstes durch den Kopf ging – jemand beginnt, die auf der Liste Stehenden, fünf Männer und drei Frauen, bis auf zwei Ausnahmen alle zwischen 30 und 40 Jahren alt, einen nach der anderen zu ermorden.

Peter Swanson hat bereits 2014 mit seinem Thrillerdebüt The Girl with a Clock for a Heart (deutsche Ausgabe im selben Jahr unter dem Titel Die Unbekannte) nachhaltig auf sich aufmerksam gemacht. Seitdem sind sieben weitere Bücher aus seiner Feder auf Deutsch erschienen, das achte wartet noch auf seine Übersetzung. Einige davon wurden bereits in mehr als dreißig Sprachen übersetzt. Swanson bekennt sich vom Beginn seiner Schriftstellerkarriere an zu Vorbildern wie John D. MacDonald, dem Erfinder von Travis McGee, jenem zynischen Privatdetektiv, der in 21 Romanen zwischen 1964 und 1985 auftrat und dem auch in Neun Leben eine kleine Referenz gilt, sowie Stephen King.

Dabei erwies er sich immer wieder als ein Autor, der seine Leser gern auf falsche Fährten lockte, routiniert mit deren Erwartungen spielte und diese am Ende meistens raffiniert unterlief. Das wirkte zwar gelegentlich etwas überkonstruiert, wurde aber immer auf fesselnde und äußerst unterhaltsame Weise umgesetzt und funktioniert auch in Neun Leben wieder ganz vorzüglich.

Denn der 1968 geborene Autor, der nach dem Studium von Englischer Literatur, Kunst und Pädagogik eine Weile als Sonderpädagoge und Buchhändler arbeitete, versteht es gekonnt, das Interesse seiner Leserinnen und Leser an neun Personen zu wecken, die, über ganz Amerika verteilt lebend und höchst unterschiedlichen Professionen nachgehend, tatsächlich nichts miteinander zu tun haben und trotzdem dazu herhalten müssen, eine jahrzehntealte Schuld zu tilgen. Worin diese besteht, wird erst am Ende des kurzweiligen Romans, in dem immer wieder die Perspektiven wechseln und sich Aspekte aus neun ganz unterschiedlichen Leben in stetem Wechsel entfalten, klar.

Bis dahin freilich darf man erleben, wie zwei der mit dem Tod Bedrohten beginnen, Gefallen aneinander zu finden und sich sogar auf ein – natürlich tödlich endendes – Date einlassen. Andere versuchen, sich dem perfiden Plan durch die Flucht zu entziehen, oder beteiligen sich – wie die gut vernetzte FBI-Agentin Jessica Winslow – aktiv an der Suche nach dem Täter und seinem Motiv. Und in einem Fall verhindert die Tat des Mörders sogar einen weiteren Mord, indem das Opfer just in dem Moment getötet wird, als es einer jungen Frau mit üblen Absichten in eine dunkle Gasse folgt.

Auch Detective Sam Hamilton arbeitet sich an dem dubiosen Fall ab. Als Ermittler in Kennewick/Maine, jenem kleinen Ort an der amerikanischen Ostküste, in dem der Mörder sein erstes Opfer, den pensionierten Barbesitzer Frank Hopkins, aufsucht und bei einem von dessen morgendlichen Strandspaziergängen tötet, ist er überzeugt davon, dass hier, wo die Serie ihren Ausgang genommen hat, auch die Erklärung dafür zu finden sein muss, warum gerade diese neun Personen ins Visier eines seinen Plan unbeiirt durchziehenden Täters geraten sind. Dass er damit gar nicht so falsch liegt, erweist sich am Ende von Swansons Roman.

Auf eine Flugreise nach Sarasota, um die Schwester des getöteten Frank Hopkins nach ihrem Bruder und eventuellen früheren Ereignissen in Kennewick zu befragen, die der Auslöser für die aktuelle Mordserie gewesen sein könnten, hat sich Hamilton übrigens ein Buch mitgenommen, dessen Plot ihn an den aktuellen Fall erinnert. Es handelt sich um Agatha Christies 1939 erschienenen 26. Roman, der inzwischen wegen des nicht mehr akzeptablen N-Worts im Titel, unter dem er zunächst firmierte, nur noch unter der Überschrift der amerikanischen Erstausgabe von 1940, And Than There Were None, vertrieben wird (auf Deutsch lautet die Titelzeile seit der Scherz-Ausgabe von 2003 Und dann gab’s keines mehr). Bei Christie ist es eine einsame britische Insel, auf die von einem Unbekannten zehn Menschen gelockt werden, um sie dort nacheinander zu ermorden.

Wer diesen Roman, der übrigens zu den erfolgreichsten und meistverkauften Spannungsbüchern aller Zeiten zählt, gelesen hat – gerade bereitet der Hamburger Verlag Hoffmann und Campe eine Neuübersetzung vor, die im Herbst erscheinen soll –, dürfte schon einmal über die Richtung Bescheid wissen, in die man letztendlich auch bei Peter Swanson denken muss. Neun Leben hat am Ende übrigens noch einen letzten ethisch-moralischen Fingerzeig auf Lager: „Der Tod dieser Menschen war ein Versuch, Ordnung in eine chaotische Welt zu bringen und die Liste selbst war einfach ein Teil dieser Ordnung.“ So weit hat selbst Agatha Christie nicht gedacht.

Titelbild

Peter Swanson: Neun Leben.
Kampa Verlag, Zürich 2023.
336 Seiten , 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783311300458

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