Autobiografie eines Geheimdienstlers und gleichzeitig CIA-Satire

Eine neue Ausgabe von Norman Mailers Spionage-Roman „Gespenster“

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ich habe dieses Buch mit dem Teil meiner Phantasie geschrieben, der seit vierzig Jahren beim CIA ein- und ausgeht. „Gespenster“ ist das Produkt einer wahrhaft altgedienten Phantasie, und sie hat mit dem ebenso problematischen wie faszinierenden moralischen Druck gelebt, den der CIA in den letzten vier Jahrzehnten auf uns ausübte. Ich brauchte der Agency weder anzugehören noch ihre Mitarbeiter gut zu kennen und konnte doch zuversichtlich glauben, dass ich begriffen habe, wie sie im Innersten funktionierte.

So der amerikanische Schriftsteller Norman Mailer (1923-2007) in einer Nachbemerkung seines Romans Gespenster, der 1991 erschien. Es war der Auftaktband der Reihe Harlot’s Ghost (dt. Das Epos der geheimen Mächte), dessen zweiter Band Feinde ein Jahr später folgte.

Mailers Roman Gespenster besteht aus drei Büchern. Protagonist und Erzähler ist der CIA-Agent Herrick (Harry) Hubbard, ein aus der Oberschicht stammender Sohn einer CIA-Legende. Im ersten Teil, dem sogenannten Omega-Manuskript, etwa 100 Seiten lang, wird Hubbard gezwungen, seine Frau Kittredge, die ebenfalls für die CIA arbeitet, und sein Haus auf Mount Desert Island, Maine, zu verlassen, um in Moskau seinen Mentor Hugh Tremont Montague alias Harlot zu suchen, der im Verdacht steht, ein Doppelagent zu sein. Im zweiten Buch, vierzehn kursiv gedruckte Seiten, wird von Harrys Ankunft unter falscher Identität in Moskau berichtet, wo er sich in einem der besten Hotels ein Zimmer nimmt.

Es folgt das sogenannte Alpha-Manuskript, ein sehr detaillierter und mitunter verworrener Bericht über Harrys CIA-Karriere, die 1955 im Nachkriegs-Berlin vor dem Mauerbau beginnt. Hier wird er in einen Tunnelbau verwickelt, mit dem die CIA den Telefonverkehr nach Moskau abhören will. Nach Berlin wird er nach Montevideo in Uruguay beordert, wo es nur so von sowjetischen Spionen und lateinamerikanischen Revolutionären wimmelt. Berlin und Montevideo sind für Harry die „Lehrjahre“:

Ein Agent ist kein Geheimdienstbeamter. Man benutzt ihn so, wie man ihn vorgefunden hat. Man bittet ihn, offizielle Papiere aus dem Büro mitzunehmen. Man bringt ihm ebenfalls bei, Dokumente zu fotografieren, die er nicht herausbringen kann. […] Ein guter Agent endet ähnlich wie ein braves Arbeitstier auf einer Farm. Wir bringen ihm bei, nicht zu galoppieren, sondern stetig seine Last zu ziehen. Wir dosieren auch das Futter; denn was wir brauchen, ist ein fleißiger Kerl, der uns hilft, auf einer zuverlässigen Basis Jahr für Jahr ein lohnendes Produkt zu ernten. Das ist ein wertvolles Gut, das man niemals für zu wenig aufs Spiel setzen sollte.

Nach der Ausbildung in Uruguay wird Harry nach Miami versetzt. Hier hatte die CIA eine logistische Operationsbasis errichtet. Nachdem die Invasion von Kuba im April 1961 mit einem Debakel in der Schweinebucht gescheitert war, versuchten die CIA und andere Teile der US-Regierung in den folgenden Jahren mit der Operation „Mongoose“ den Sturz der 1959 an die Macht gekommenen Revolutionsregierung herbeizuführen. Harry ist in die Planung der Geheimoperation tief verwickelt, die jedoch 1964 erfolglos beendet wurde. Seine Karriere endet schließlich mit der folgenschweren Katastrophe des Attentats auf den amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy im Jahre 1963.

Auf den ersten Blick scheint es sich um eine Autobiografie von Harry Hubbard zu handeln, die sich aus Anekdoten über sein Leben und seine CIA-Tätigkeit sowie zahlreichen Briefen zusammensetzt, doch Mailer gelingt es, ein glaubwürdiges Bild vom Innenleben des Geheimdienstes zu entwerfen – vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis 1965. Die Agentur sammelt nicht nur die Informationen, mit denen die US-Machtelite ihren Konkurrenten immer einen Schritt voraus sein will. Die ultimative Aufgabe der CIA, so Harrys Ausbilder Harlot, ist es, „der Geist Amerikas zu werden“.

Mailers kolossales Spionage-Opus umfasst fast 1400 Seiten (beide Bände zusammen) und ist damit sein umfangreichstes Werk. Intensive Recherchen, auch während des Schreibprozesses, der immerhin sieben Jahre in Anspruch nahm, waren die Grundlage. Über 100 CIA-Bücher hatte er studiert und zahllose Akten gewälzt – auch mit Unterstützung von einigen Mitarbeitern. Am Ende befürchtete Mailer jedoch, dass Das Epos der geheimen Mächte bei seinem Erscheinen von den politischen Ereignissen Anfang der 1990er Jahre überholt sein könnte. So erschien seine kritische Auseinandersetzung mit der CIA im September 1991 mitten im weltpoltischen Umbruch mit dem Zerfall des sozialistischen Systems.

Die zahlreichen Fakten und Hintergründe lassen oft ein Sachbuch vermuten, doch Mailer betont in seiner Nachbemerkung, dass Gespenster ein belletristisches Werk ist, denn die meisten seiner Hauptgestalten sind ebenso fiktive Figuren wie die Mehrheit des Begleitpersonals. Den historischen Persönlichkeiten, die in dem Buch auftauchen, hat er jedoch keine erfundenen Namen gegeben. „Die Entscheidung, authentische und fiktive Nebengestalten zu mischen, lag nicht der Wunsch zugrunde, im Quasidokumentarischen zu versinken, sondern sich wenigstens versuchsweise darüber zu erheben.“

Nicht nur der Umfang, sondern auch die Fülle und die ausführliche Beschreibung der Details von Geheimdienstoperationen erfordern bei der Lektüre große Konzentration. Mit seiner originellen Schilderung hat Mailer jedoch nicht nur das Funktionieren der Geheimdienste seziert, sondern auch eine Chronologie des Kalten Krieges geliefert.

Die Neuausgabe des Romans folgt der Übersetzung von Dirk Muelder aus dem Jahre 1991 und ist ein Beitrag zum 100. Geburtstag von Norman Mailer, herausgegeben vom Langen Müller Verlag, der sich schon seit Jahren um das Werk des amerikanischen Schriftstellers verdient macht. So hat man mit der bereits auf elf Bände angewachsenen Edition die Möglichkeit, den streitbaren Ausnahmeschriftsteller in all seiner Wucht und Schärfe neu zu entdecken. Für Juli hat der Verlag den zweiten Band Feinde vom Epos der geheimen Mächte angekündigt.

Titelbild

Norman Mailer: Gespenster. Das Epos der geheimen Mächte. Erster Ring.
Ins Deutsche übertragen von Dirk Muelder.
Langen Müller Verlag, Stuttgart 2023.
752 Seiten , 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783784436609

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