Neue Wege literarischen Lernens

Sebastian Bernhardts Habilitationsschrift „Literarästhetisches Lernen im Ausstellungsraum“ als Plädoyer für die Verbindung von Schule und kultureller Praxis

Von Stefan EmmersbergerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Emmersberger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sebastian Bernhardt stellt seiner Habilitationsschrift eine klare Zielsetzung voran. Zu Beginn der Einleitung schreibt er: „Ziel der vorliegenden Habilitationsschrift ist eine (sym-)mediale Erweiterung des Literatur- und Medienunterrichts im Fach Deutsch. Im Rahmen der Arbeit soll deutlich werden, dass Literaturausstellungen fruchtbare, bisher nicht beachtete Potenziale für die Literatur- und Mediendidaktik bieten.“ Damit ist die Stoßrichtung der Arbeit präzise zu verorten. Im Sinne aktueller Einführungen in die Medien- und Literaturdidaktik reiht er sich in die Stimmen derer ein, die eine Öffnung des Literaturunterrichts für neue, digitale Medien und die kulturelle Praxis der Kinder und Jugendlichen fordern. Auf den ersten Blick fragt man sich allerdings, warum dieses Ziel ausgerechnet mit Literaturausstellungen erreicht werden soll. Spontan würde man diese eher in der Gutenberg-Galaxie angesiedelt sehen, die man doch in Richtung Digitalität verlassen möchte.

Zunächst einmal lässt sich dazu sagen, dass Sebastian Bernhardt anhand einer systematischen Analyse des literaturmusealen Diskurses und ausgewählter Literaturausstellungen aufzeigt, dass diese heutzutage ein deutlich breiteres Spektrum bieten können als nur personalmuseales Ausstellen und Schauphilologie. Interessant wird es vor allem dann, wenn die Grenze zwischen materiellen Objekten wie handschriftlichen Originalfassungen hin zum Immateriellen der Literatur wie ihren zentralen Motiven und den damit verbundenen Sichtweisen auf die Welt überschritten wird. Bernhardt formuliert es wie folgt:

Dabei gehe ich davon aus, dass erstens solche Arten von Ausstellungen bestehen, die Gegenstände im Ausstellungsraum präsentieren, zweitens solche, die sich an der Grenze zwischen materiellen und immateriellen Gegenständen befinden und materielle Objekte in einem starken Sinne inszenieren und neu semantisieren und drittens solche, die sich als Ausstellungen des Immateriellen verstehen und Literatur mittels Szenografie in den Ausstellungsraum übertragen.

Insbesondere bei letzteren beginnen Literaturausstellungen, ihr Potential als Symmedium voll auszuschöpfen. Abstrakt gesprochen werden diese dann selbst zu einem ästhetischen Medienangebot, das unterschiedliche Zeichenmodalitäten auf komplexe Weise verbindet und polyvalente Bedeutung evoziert. Ein gutes Beispiel ist dafür die Grimmwelt in Kassel, die Besucher:innen etwa über virtuelle Realität und Augmented Reality in Textwelten involviert. Etwas schade ist in diesem Zusammenhang, dass Sebastian Bernhardt rein virtuelle Ausstellungen ausklammert, scheinen doch gerade die Möglichkeiten der Digitalität für die dritte Kategorie besonders vielversprechend.

Als Zweites weist die Arbeit auf einen Punkt hin, der im aktuellen bildungspolitischen, aber auch wissenschaftspolitischen Diskurs über hohe Brisanz verfügt. Gemeint ist die Orientierung an Standards und Kompetenzen und die damit verbundene psychometrische Messung des Outputs von Schule. Ein plastisches Beispiel für die Vehemenz, mit der dieser geführt wird, ist die aktuelle Berliner Erklärung und der offene Brief gegen eine Verengung des Bildungsdiskurses. Hier wird einem „monomethodischen“ Kompetenzverständnis explizit widersprochen und ein theoretisch, fachlich und methodisch breiter aufgestelltes Bildungsmonitoring gefordert. Dabei lässt sich Sebastian Bernhardt durchaus im Lager der empirischen Bildungsforschung und eines evidenzbasierten Unterrichts im weiteren Sinne verorten. Immerhin verfügt seine Habilitationsschrift über elaborierte methodologische Überlegungen und fußt mit einer Kombination aus teilnehmender Beobachtung und Expert:inneninterviews auf komplexen qualitativen Daten. Andererseits nimmt er mit Literaturausstellungen eine kulturelle Praxis in den Blick, die sich als außerschulischer Lernort und vielschichtiges Symmedium einer verengten quantitativen Vorstellung von Lernen und vor allem Bildung geradezu entzieht. Am Ende seiner Arbeit wendet er sich dementsprechend gegen einen „linearen Vermittlungsmodus“ und spricht von einer „erweiterten schulischen Didaktik“. Den Anspruch seines Ansatzes bringt er folgendermaßen auf den Punkt: „Insofern geht es dezidiert nicht um die Vermittlung feststehender und kanonisierter Wissensbestände im Museum und auch nicht darum, einen klar definierten Ertrag an Wissen zu einem Thema über das Museum zu übermitteln, sondern um die Ermöglichung jeweils individueller und damit im Idealfalle auch nachhaltiger Erfahrungen.“ Und weiter schreibt er: „Ausstellungen in diesem Sinne stellen kein in lineare Lernstrukturen zu übersetzendes Unterrichtsappendixangebot dar, sondern Symmedien im Raum, die nachhaltige, individuelle, medienästhetische und ganzheitliche Erfahrungen ermöglichen und damit einen Beitrag zum Literaturunterricht in einem erweiterten Sinne leisten können.“

Damit spricht er Aspekte des Lernens an, die den Bereich der Kompetenzmessung übersteigen und sich im aktuellen literaturdidaktischen Diskurs vor allem dem Begriff Bildung zuordnen lassen. Gerade im Bereich des Literaturunterrichts wird diese seit Beginn des Kompetenzparadigmas etwa unter dem Schlagwort der Persönlichkeitsentwicklung immer wieder eingefordert und stark gemacht. So sympathisch das ist, bleibt mit Blick auf die innere Logik der (gegenwärtigen) Schule dennoch ein Stück weit die Frage, ob sich auf diese Weise Literaturausstellungen wirklich in dem Maße als mediale Erweiterung der Gegenstände des Literaturunterrichts etablieren können, wie sich Sebastian Bernhardt das wünscht. So weiß man nicht zuletzt aus eigener Erfahrung als Schüler:in, dass Unterrichtsangebote, die nicht in die Prüfungskultur eingebunden sind, eine Tendenz haben, an den Rand der (Sommer-)Ferien zu rutschen. Die entscheidende Frage ist, wie sich dies über eine adäquate didaktische Inszenierung vermeiden lässt, ohne dem komplexen Symmedium eine lineare Vermittlungsstruktur überzustülpen.

Die Lösung könnte darin bestehen, dass sich tatsächlich die Lern- und eventuell auch Prüfungskultur in der Schule ändert oder zumindest erweitert. Sebastian Bernhardt lässt dies immer wieder anklingen, wenn er die Spezifika von Literaturausstellungen als außerschulische Lernorte erläutert und detaillierte Analyseraster für die Auswahl von Angeboten, die Identifikation von Lernpotentialen und die Planung von Besuchen entwickelt:

So darf gerade der Literaturunterricht sich in Zeiten der Kompetenzorientierung nicht nur auf einen unterrichtlichen Output fokussieren. Auch wenn der Besuch einer Literaturausstellung also nicht direkt und unmittelbar messbare Kompetenzzuwächse garantiert, handelt es sich doch um ein lohnendes Angebot für den Deutschunterricht, weil dadurch sinnliche Anschaulichkeit und nachhaltige Erfahrungen ermöglicht werden, eine spezifische Form des Verhältnisses zur Literatur hergestellt und schließlich auch ein kulturtragendes medienästhetisches Kommunikationssystem in den unterrichtlichen Blick genommen werden.

Anschlussfähig ist diese Position an grundlegende Überlegungen zum menschlichen Lernen. So streicht beispielsweise Michael Tomasello in seiner Theorie zur Ontogenese Becoming Human die kulturelle und soziale Bedeutung von Lernen heraus. Eine praktische Umsetzung wäre etwa in Form erfahrungsbasierten Lernens, wie es Alice und David Kolb in The Experiential Educator vorschlagen, denkbar (vgl. Experimental Learning Cycle und Institute for experimental learning). Und interessanterweise gehen auch kultusministerielle Überlegungen in diese Richtung, wenn zum Beispiel im Strategiepapier Bildung in der digitalen Welt in fächerübergreifenden kulturellen Praktiken gedacht wird.

Es zeigt sich: Sebastian Bernhardts Habilitationsschrift bietet im positiven Sinne viel Diskussions- und Innovationspotential. Am Beispiel literarischen Lernens und aktuellen Literaturausstellungen illustriert er eine überzeugende Möglichkeit, wie sich die schulische Lernkultur neu denken und für die kulturelle Praxis öffnen lässt. Dass dies im immer noch dominanten Kompetenzparadigma dringend notwendig ist, muss hier nicht noch einmal betont werden, gewinnt aber in einer fortschreitenden Kultur der Digitalität an neuer Dringlichkeit.

Titelbild

Sebastian Bernhardt: Literarästhetisches Lernen im Ausstellungsraum. Literaturausstellungen als außerschulische Lernorte für den Literaturunterricht.
Transcript Verlag, Bielefeld 2023.
342 Seiten , 49,00 EUR.
ISBN-13: 9783837665031

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