Bibliophile Sensibilität?
Satoshi Yagisawas „Die Tage in der Buchhandlung Morisaki“ lobt die Antiquariatsmeile in Tôkyô als Zone der Resilienz
Von Lisette Gebhardt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseFür Die Tage in der Buchhandlung Morisaki, im japanischen Original Morisaki shoten no hibi, erhielt der damals noch unbekannte Yagisawa Satoshi 2009 einen Literaturpreis und einige Aufmerksamkeit. Nur ein Jahr später verfilmte die Regisseurin Hyûga Asako (* 1978) den Stoff. Der Text wurde zum Bestseller und es erschienen Folgeversionen, nämlich Momokos Rückkehr / Momoko-san no kikan (2010), als zweiter Teil in den vorliegenden Band unter dem Titel Tante Momokos Rückkehr aufgenommen, sowie Fortsetzung: Die Tage in der Buchhandlung Morisaki (2011). Yagisawas Debütroman handelt von der jungen Firmenangestellten Takako. Ursprünglich aus Südjapan, kommt sie zum Studium nach Tôkyô, wo sie später einen Job findet und eineinhalb Jahre lang eine Beziehung mit dem gutaussehenden Hideaki aus ihrer Firma hat – bis dieser ihr eröffnet, er werde heiraten: Nicht sie, sondern seine Hauptfreundin. Takako erkennt, wie naiv sie war. Tief getroffen, gibt sie den Arbeitsplatz auf, zieht sich in ihr Apartment zurück und fällt in eine Depression, unfähig, den Alltag zu bestreiten oder Pläne für die Zukunft zu entwerfen. Ein Anruf ihres Onkels Satoru rettet sie aus dieser schwierigen Lage. Er bietet ihr an, in seinem Bücherladen auszuhelfen. Dafür könne sie ohne Miete die kleine Wohnung über dem Geschäft nutzen.
Mit dem Ortswechsel nach Jinbôchô, dem „größten Antiquariatsviertel der Welt“ beginnt ein neuer Lebensabschnitt. Der bereits in dritter Generation geführte Laden mit einem Bestand von circa 6000 Monographien ist auf die japanische Frühmoderne, die sogenannte kindai bungaku, spezialisiert. Takako, selbst zunächst keine Leserin, trifft bei Morisaki auf bibliophile Kunden, von denen sie manch einschlägigen Kommentar hören muss:
Der Jugend von heute sei nicht mehr zu helfen. Die würde nur noch vor dem Computer sitzen und spielen und kein Buch mehr lesen. Höchstens einen Manga oder einen Handy-Roman, nichts Vernünftiges.
Bevor sich die junge Frau aber an die Gepflogenheiten des Altbücherhandels gewöhnt und sich selbst der Lektüre zuwendet, muss sie die Verletzungen durch die unglückliche Liebe überwinden. Satoru macht sie, nachdem Takako eine Phase mit intensivem Schlafbedürfnis durchlaufen hat, mit seinem Lieblingscafé bekannt, was ihre Stimmung hebt, zumal sie dort Kontakt mit anderen Menschen knüpft. Halbwegs wieder in einem akzeptablen psychischen Zustand, kann die junge Frau von ihrem Aufenthalt in der vom Onkel – wider die Tendenzen der Zeit – „geretteten“ Schutzzone profitieren:
Die Monate, die ich in dieser Oase verbringen durfte, empfand ich als großes Glück. Bald war ich mit der Stammkundschaft vertraut und kannte mich auch mit den Schriftstellern aus, die wir führten.
In der Gemeinschaft der Bücherfreunde begegnet man Takako mit Sympathie, sie entspannt sich allmählich. Die Protagonistin erkennt schließlich, wieviel Glück sie hatte: „Niemals, schwor ich mir, werde ich vergessen, was die Zeit im Antiquariat Morisaki mich gelehrt hat.“
Der Autor beschreibt die Lesenden als die einfühlsameren Mitmenschen und kontrastiert sie mit der oberflächlichen, egoistischen Haltung von Hideaki, der nur am eigenen Vorteil interessiert ist. Yagisawa schildert die junge Frau als eine im Raupenzustand befindliche Persönlichkeit, die sich erst noch zum Schmetterling entfalten muss. Tatsächlich hatte Takako, bevor die Liebesillusion zerbrach, kaum über ihre Wünsche und Ziele im Leben nachgedacht. Insofern ermöglichen der Onkel und das Umfeld Antiquariat die nötige Neuorientierung. Die Lektüren, auf die sie sich einlässt, tragen dazu bei, ihren Horizont zu erweitern. Zu den Leseempfehlungen, die man an sie heranträgt und mit denen sie sich eingehender beschäftigt, zählen Motojirô Kajii (1901-1932), Osamu Dazai (1909-1948), Saisei Murô (1889-1962), Saneatsu Mushanokôji (1885-1976) und Taruho Inagaki (1900-1977), Autoren aus dem Kanon der für das 20. Jahrhundert prägenden japanischen Bildungskultur.
Yagisawas Roman ist nur bedingt ein Roman der Bücher. Er plädiert zwar für den Erhalt der Antiquariatsstraße in der Metropole, begründet dies jedoch zum einen damit, sie sei für in- und ausländische Touristen attraktiv. Dieses Argument birgt die Botschaft, man möge den Fortbestand der Meile – in Zeiten, die wirtschaftlich für das Buchgeschäft nicht allzu ergiebig sind – sichern und sie wie die Stätten der Seidenspinnerei in Tomioka oder die Reste der industriellen Revolution um 1900 als Kulturerbe bewahren. Zum anderen sei es der menschliche Faktor, der solch gewachsenen, gesunden Ortsgemeinschaften ein Existenzrecht jenseits des rein Ökonomischen gewähre.
Während über die zitierten Autoren nie diskutiert und anstelle eines informierten Zugangs die spontane, emotionsbasierte Annäherung an die Texte gelobt wird, handelt Die Tage in der Buchhandlung Morisaki von Liebesbeziehungen, d.h. Literatur dient als Gefühlsschulung und Anleitung zum „guten“ menschlichen Leben:
Was mich am meisten ansprach, war die Wärme des Autors seinen Figuren gegenüber, selbst bei der Beschreibung der tristen Jugend des Helden und der schwierigen Verhältnisse, in denen er aufgewachsen war. Sie berührte mich tief. So konnte nur jemand schreiben, der das Leben über alles liebte.
Takakos Onkel, der bisweilen wie eine Figur aus einem Roman Haruki Murakamis wirkt, leidet im Stillen darunter, dass ihn seine Frau Momoko verlassen hat. Ein Grund wird nicht genannt. Von mangelnder Sensibilität hinsichtlich der Belange seiner Partnerin ist wohl nicht auszugehen, da sich Satoru vorbildlich für Takako einsetzt und ihr Selbstwertgefühl in Bezug auf den treulosen Hideaki stärkt. Das Rätsel um die entschwundene Momoko findet auch im zweiten Text der Übersetzung, Tante Momokos Rückkehr, zu keiner vollständigen Lösung. Bei Takako, die mittlerweile in einem kleinen Designbüro arbeitet, deutet sich hier eine neue Liebe an, sodass zumindest für sie, der zum Lesen Bekehrten und Gereiften, das Moment der „Heilung“ gilt. Yagisawa untermauert mit seinem in der japanischen Beschreibung des Bands als „herzerwärmend“ charakterisierten Beitrag zudem die Wichtigkeit der Familie und den Wert von Familientradition.
Für einen Text, der das Literarische empfiehlt, das sei abschließend noch angemerkt, ist die Sprache der deutschen Übersetzung beklagenswert fern jeder literarischen Anmutung. Sie erweist sich als einigermaßen seicht, durchzogen von abgegriffenen Wendungen: „Krass“, „klitschnass“, „schieß los“ oder „wow“. Es scheint allerdings ein aktueller Trend bei vielen Verlagslektoren zu sein, japanische Texte in das zu einfachem Geplauder reduzierte Allerweltsdeutsch des Content-Markts zu überführen, um so ein Arsenal leicht konsumierbarer „Weltliteratur“ zusammenzustellen. In ihr bleibt dem Leser jede intellektuelle Anstrengung vorenthalten, und ein letzter Rest Differenz scheint bestenfalls als touristischer Imperativ auf.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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