Anstrengende Erinnerungen

Zu lang, zu derb, zu deprimierend: Fernando Aramburos Roman „Die Mauersegler“ könnte ein Sittenbild der spanischen Gesellschaft in den letzten 50 Jahren sein, verpufft aber zum nörgelnden Kommentar eines unzufriedenen Mittfünfzigers.

Von Monika GroscheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Grosche

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Toni, der Protagonist und Ich-Erzähler in Fernando Aramburus jüngstem Roman Die Mauersegler, ist des Lebens überdrüssig. Nichts an seiner Existenz scheint es wert, diese fortzuführen. Als geschiedener Studienrat und Philosophielehrer Mitte Fünfzig findet er in seinem Leben nichts, was es lebenswert machen würde – außer vielleicht der treuen Hündin Pepa, mit der er seit Jahren Wohnung und Leben teilt, seitdem ihn seine Frau mitsamt dem gemeinsamen Sohn verlassen hat. Amalia war schön, eloquent, erfolgreich – und lesbisch, wie er nach etlichen Jahren ehelichen Kleinkriegs feststellen musste. Auch wenn er nun allein eigentlich viel besser dasteht, stellt sich nach kurzer Erleichterung keine dauerhafte Freude an seiner Freiheit ein. Was ihn eher prägt, sind Verbitterung und Verachtung für alle Menschen in seinem Umfeld, einschließlich seines Sohns Nikita, den er schon immer für geistig minderbemittelt gehalten hat. Da er diesem auch nie besondere Zuneigung schenkte, taucht Nikita nur noch gezwungenermaßen zu Besuchen auf, und das in erster Linie, um Geld bei ihm abzustauben.

Auch seine Kollegen und Kolleginnen an der verhassten Schule mit der despotischen Rektorin meidet er, wo er nur kann. Genauso wie das Unterrichten selbst sind sie ihm einfach zuwider. Das trifft auch auf die Schülerinnen und Schüler zu. Deren mangelnde Energie und fehlender Ehrgeiz sowie ihre nörgelnden Eltern gehen ihm so sehr auf die Nerven, dass er ihnen aus Rache beispielsweise Uwe Seeler als großen Philosophen verkauft. Seine Herkunftsfamilie taugt ebenso wenig als Quelle der Lebensfreude. Er besucht zwar pflichtschuldig seine Mutter im Altersheim und passt auf, dass die demente Frau gut behandelt wird. Dies ist aber teilweise der Konkurrenz mit seinem verhassten Bruder Raúlito geschuldet, dem er den Triumph nicht gönnen will, sich besser um die Mutter zu kümmern.

Was bleibt da noch? Neben Pepa und der Sexpuppe Tina hat er nur einen einzigen Freund. Ihn nennt er heimlich „Humpel“, nachdem dieser bei den islamistischen Anschlägen im März 2004 auf dem Bahnhof Atocha seinen Fuß verlor. Gemeinsam trinken sie gerne mal ein Bier, beklagen die Zustände der Welt und schmieden Pläne, aus dem Leben zu scheiden.

Ob Humpel das wirklich ernst meint, ist nicht ganz klar, aber Tonis Beschluss steht am 1. August 2018 fest: Der 31.7.2019 soll sein letzter Tag auf Erden sein. Bis dahin führt er über jeden verbleibenden Tag ein Tagebuch, in dem er seine Kindheit, seine Jugend und sein Erwachsenenleben Revue passieren lässt.

Diese Episoden werden nicht chronologisch erzählt, sondern so, wie die Erinnerungen in ihm aufsteigen. Auf diese Weise erfahren wir immer wieder ungeordnet neue Details über den kommunistischen Vater, der von Francos Schergen gefoltert wurde, über die unglückliche Mutter, die diesem heimlich in die Suppe spuckte, über die spanische Gesellschaft in Diktatur und Demokratie und die prägenden politischen Ereignisse der letzten 50 Jahre.

Das ist raffiniert aufgebaut und durchaus interessant mitzuverfolgen – wäre da nicht Toni selbst. Toni ist alles andere als ein Sympathieträger. Er ist arrogant, sexistisch, engstirnig und nicht im Geringsten am Wohlergehen anderer interessiert. Das mag zum Teil aus seiner Kindheit mit dem übermächtigen Vater, der ohrfeigenden Mutter und dem faschistischen Erziehungssystem resultieren. Doch andererseits muss man deshalb nicht selbst zum Fiesling werden und noch als Erwachsener aus Eifersucht den Bruder traktieren oder das eigene Kind emotional vernachlässigen. Irgendwie wird man beim Lesen das Gefühl nicht los, dass Toni meint, ihm hätte mehr zugestanden als er vom Leben bekommen hat. Dass man selbst etwas dafür tun muss, damit es Sinn und Erfüllung hat, scheint ihm entgangen zu sein.

Da wir alles aus Tonis überaus unzufriedener und frustrierter Sicht erfahren, ermüden und deprimieren die mehr als 800 Seiten Lektüre zusehends. Daran ändert leider auch das Auftauchen von Águeda, der einzig sympathischen Figur des Romans, nur wenig. Sie ist eine frühere Freundin, die er wegen Amalia sitzen ließ. Nun taucht sie nach 27 Jahren wieder auf und nimmt immer mehr Platz in Tonis Leben ein. Nicht sonderlich überraschend ist die Wendung, dass er über sie wieder einen Zugang zum Leben findet. Und so folgt auf 365 Einträge bis zum Tag seines Ablebens dann doch noch einer am Tag 366 an dem er sich ein Buch kauft – ein Signal, dass er das Interesse am Lesen und am Leben doch noch nicht verloren hat.

Auch die oft rüde Sprache und der derbe Humor des Romans tragen nicht unbedingt dazu bei, dass man ihn bis zum Ende verfolgen möchte. Das ist schade, denn Aramburo hätte mit seiner vielfach aufblitzenden Ironie, mit der er dogmatischen Kommunismus, engstirnigen Katholizismus und ungebrochene faschistische Ideologie entlarvt, durchaus das Potenzial gehabt, den Roman zum Sittenbild der spanischen Gesellschaft von der Diktatur bis heute zu gestalten. Aber so bleibt man etwas ratlos zurück und kann Toni nur wünschen, dass er an seiner Lektüre am Tag 1 nach dem anvisierten Selbstmord mehr Gefallen finden wird.

Titelbild

Fernando Aramburu: Die Mauersegler.
Roman.
Aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2022.
832 Seiten , 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783498003036

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