Aufnahme und Weiterentwicklung

Franziska Solana Higuera untersucht die Spuren von Karl Philipp Moritz in der Literatur um 1800

Von Ulrich KlappsteinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Klappstein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das heterogene Werk von Karl Philipp Moritz (1756-1793) muss nach Ansicht der Literaturwissenschaftlerin Franziska Solana Higuera in Hinblick auf seine Wirkungsgeschichte neu bewertet werden und aus der Kontextualisierung der Spätaufklärung und der Weimarer Klassik gelöst werden. In ihrem 2021 abgeschlossenen Dissertationsprojekt an der TU Braunschweig, das nun als Veröffentlichung vorliegt, arbeitet sie heraus, wie sein polyzentrisches Denken von Autoren um 1800 individuell aufgenommen und weiterentwickelt wurde, namentlich von Wilhelm Heinrich Wackenroder, Ludwig Tieck, Jean Paul, Karl Wilhelm Ferdinand Solger, Friedrich Schlegel, Novalis und Wilhelm von Humboldt. In den Texten von Tieck und Wackenroder, feststellbar an den Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders beispielsweise, sei es zu einer „direkten Rezeption“ seiner Berliner Vorlesungen gekommen. Novalis rekurrierte im Blüthenstaub-Fragment auf dessen mythologischen Schriften, für die Publikationsgeschichte von Jean Pauls Romanerstling Die unsichtbare Loge – und auch für einige Motivreihen– legte Moritz nachweisbar wesentliche Grundlagen. Moritz’ Schrift Über die bildende Nachahmung des Schönen von 1788 prägte Wilhelm von Humboldts ästhetische Anthropologie, Friedrich Schlegel schöpfte in seiner Abhandlung Über das Studium der griechischen Poesie aus dem Potenzial, das in Moritz’ Ansichten über die Verschiedenheit der Antike und der Moderne angelegt war, und in Ludwig Tiecks frühen Prosawerken liegen offene Verbindungslinien zu Moritz’ Roman Anton Reiser.

Allgemein konstatiert die Verfasserin, dass Moritz’ Konzept der Autonomie des Schönen die Sattelzeit um 1800 wesentlich mitgeprägt habe, indem er sich als deren Impulsgeber erweist. Ausgehend von diesem Zeitfenster regt Higuera an, den überkommenden Epochenbegriff zu überdenken. Mit Niklas Luhmann fordert sie eine Neujustierung gängiger Epochenmodelle, um Zeitphänomene wie das literarische, künstlerische und wissenschaftliche Wirken eines Autors wie Karl Philipp Moritz neu zu „konstellieren“. Es gelte also, Verbindungslinien zu erkennen, die „vorab nicht sichtbar“ gewesen seien.

Mit Pierre Bourdieu ordnet sie die Ansätze zur Theorie des literarischen Feldes neu, denn jeder der in ihrer Studie untersuchten Autoren habe um 1800 Positionen eingenommen, die sich in Beziehung zu Moritz setzen ließen, was sie anhand von Zitaten, Paraphrasen und Motiven nachweist. Moritz bilde deshalb einen wesentlichen „Schnittpunkt“ für die Literatur um 1800.

Higueras Monografie bietet ebenfalls einen sehr brauchbaren Überblick über die Forschungslage zu Moritz, der lange Zeit eben nicht als „Vorbereiter“ und „Vordenker“ der Romantik gesehen worden sei: so existierten nur wenige Studien zu den von ihr analysierten Autor-Beziehungen. Dies sei vor allem der Tatsache geschuldet, dass Moritz’ ästhetische Schriften erst in den 60-er Jahren des 20. Jahrhunderts in das Visier der Forschung gekommen seien und insbesondere dass seine Schriften zur „Erfahrungsseelenkunde“ – als das wesentliche psychologische Konzept der Aufklärungszeit – erst in den 70-er Jahren neu ediert worden sind. Vergleichbares gelte für Moritz’ Mythenpoetik, obwohl diese Wesentliches zu den literarischen Debatten um 1800 beigetragen habe, ablesbar an dem Befund, dass das Interesse für diesen Ansatz in der Frühaufklärung „förmlich explodiert“ sei.

Higuera tritt in ihrer Dissertation dafür ein, dass am Beispiel des durchaus heterogenen Werks von Karl Philipp Moritz gezeigt werden könne, dass eine strikte Epochenzuordnung hinderlich sei und zu einem Ungleichgewicht in der Beschreibung von Rezeptionslinien führen müsse. Nachdrücklich plädiert sie dafür, feststellbare „Epochenmerkmale“ eher als Tendenzen denn als Grenzen zu verstehen. Viele Reminiszenzen an die Moritz’sche Erfahrungsseelenkunde und Ästhetik „schimmern“ bei den in ihrer Studie behandelten Autoren „palimpsestartig“ durch, jeder Autor habe spezifische Ideen von Moritz aufgenommen und sie für eigene Ideen und Theorien „adaptiert“.

Karl Philipp Moritz war ein Mittler zwischen den Epochen. Die Vernachlässigung seiner Schriften, so Higuera, führe zu einem nur eingeschränkten Verständnis der Romantik, weil er vor allem aus heutiger Sicht „ein Moderner“ sei: Er „formuliert auf den Gebieten der Ästhetik, Sprachtheorie, Mythologie und natürlich der Psychologie Gedanken vorweg, die zum Teil seinen späteren Schülern oder Rezipienten zugesprochen wurden“, so die Bilanz der Verfasserin. Es komme darauf an, das Mäandernde oder Changierende vermeintlicher Epochengrenzen zu erkennen.

Titelbild

Franziska Solana Higuera: Spuren. Karl Philipp Moritz in der Literatur und Kultur um 1800.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2023.
394 Seiten , 49,80 EUR.
ISBN-13: 9783826077548

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