Über Umwege zu Omas Karpfenteich

In Annika Büsings Roman „Koller“ fährt die ganze Familie im Kofferraum mit

Von Nuria DemessierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nuria Demessier

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu diesem Titel ist in literaturkritik.de bereits eine Rezension von Karsten Herrmann erschienen. Ausnahmsweise publizieren wir hier eine zweite, studentische Rezension.

Erst im letzten Jahr erschien mit Nordstadt Annika Büsings Debütroman, der ihr den Literaturpreis Ruhr sowie den Mara-Cassens-Preis einbrachte. Mit Koller entführt die Bochumer Gymnasiallehrerin ihre Leser*innen nun auf eine siebentägige Autoreise von Leipzig bis an die Ostsee. Die Handlung folgt der typischen Struktur eines Roadmovies. Die beiden jungen Männer Koller und Chris verlieren das eigentliche Ziel zunächst aus den Augen. Der Besuch bei Kollers Schwester sowie die holprige Fahrt ins überschwemmte Ahrtal zu seiner kleinen Tochter Hannah schütteln das bisherige Leben der jungen Männer ordentlich durch und setzen das typische Motiv der inneren Reise in Gang.

Interessant wird diese durch die Unterschiedlichkeit der beiden Figuren. Chris, spießiger Einser-Schüler mit abgeschlossenem Studium und festem Job, hat sich von den Menschen zurückgezogen und glaubt nicht, dass ihm noch irgendwer gut gesinnt sein könnte. Wenn er in ein Auto steigt, rattert sein Kopf die Unfallstatistiken herunter und auch sonst denkt er zu viel nach. Das, was er außerdem ist oder eben nicht ist, haben ihm die anderen erzählt – Lehrer, Ärzte, seine Mutter: „Chris muss mutiger werden“, „Chris zeigt wenig Empathie“, „Chris muss mehr essen“. Koller dagegen steht mit abgebrochenem Medizinstudium da. Er ist ein Chaot, spontan, witzig – einer, der die Leute unterhält. Doch tief in ihm schlummern eine große Traurigkeit und Verzweiflung, die in Chris das Bedürfnis auslösen, ihn retten zu wollen.

Dass die beiden füreinander bestimmt sind, ist im Roman von Anfang an klar. Nur wie die beiden, vollgepackt mit ihren Glaubenssätzen über sich selbst und die Welt, miteinander auskommen sollen, ist auch ihnen ein Rätsel.

Die Frage, wer eigentlich definiert, wer und wie wir sind, zieht sich wie ein roter Faden durch den gesamten Roman. Annika Büsing zeichnet feine psychologische Studien zweier Familien, die vorführen, wie Charakterzüge und Probleme von Generation zu Generation die Kinder beeinflussen können. Dass Koller, Sohn einer depressiven Mutter – diese ebenfalls mit depressivem Vater aufgewachsen − gerade der ist, der alle zwanzig Seiten weinend am Straßenrand sitzt, wirkt dabei teils konstruiert und klischeebehaftet, auch wenn es auf das Vererbungsrisiko dieser psychischen Krankheit hinweist.

Während die gesamte Handlung aus Chris‘ Perspektive als siebenteiliger Schöpfungsbericht (die gläubige Tagesmutter hat ihre Spuren hinterlassen) über den Roadtrip erzählt wird, erfahren die Leser*innen zusätzliche Informationen über die Eltern- und Großelterngeneration aus Einschüben eines allwissenden Erzählers. So führt Büsing vor, dass eben auch Chris‘ Wissen begrenzt ist und in Familien über so manches gern geschwiegen wird. Im Roman ist das die Homosexualität, die in beiden Familien auftaucht. Sie wird zu einem Nebenthema, mit welchem der Text einen kritischen Blick auf unsere heutige Gesellschaft wirft, der er im Vergleich zur Eltern- und Großelternzeit zwar schon mehr Toleranz zuspricht, Homosexualität und „Vater-Vater-Kind“ aber noch immer einen schweren Stand haben.

Die Autorin schafft es durch eine geschickte Verbindung von treibender Handlung und den Gedankengängen des Erzählers, dass man das Buch nicht beiseitelegen will. Dass Chris die Chronologie seines Berichtes dabei oft verlässt und wild durch die erzählte Zeit springt, fördert ebenfalls die Spannung, wird im zweiten Teil des Buches jedoch teils unübersichtlich. Die Sprache weist keine hochkomplizierten Satzstrukturen auf, sondern fügt sich auch durch den Einbau von Umgangssprache und hintergründigem Humor ins Bild der Erzählfigur. Teils pathetische Passagen heben sich davon ab, lassen sich aber ebenfalls mit Chris‘ Persönlichkeit erklären, der die Liebe seiner Mutter zu Poesie und Philosophie in sich trägt. Gewöhnungsbedürftig sind die verschiedenen Ansprachen, zwischen denen der Roman immer wieder unvermittelt wechselt. Mal spricht der Erzähler von Koller in der dritten Person, mal spricht er ihn mit „Du“ direkt an, auch wenn er von Situationen berichtet, in denen Koller dabei gewesen sein muss. Als Leser bekommt man so den Eindruck, in eine intime Welt zu schauen, die nur für die beiden jungen Männer bestimmt ist. Das Publikum wird über die circa 170 Seiten dazu angeregt, sich freizumachen von negativen Einflüssen der eigenen Herkunft und skeptischen Blicken von außen. Denn Chris und Koller erfahren durch ihre Begegnung einen neuen Blick auf sich selbst und stehen nach den sieben Tagen eigentlich erst am Anfang ihrer eigenen Neuschöpfung.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Annika Büsing: Koller.
Steidl Verlag, Göttingen 2023.
176 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783969991961

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