Vom Artusroman zur Mädchenliteraturserie: Gender als Querschnittsthema

Ein kurzweiliger Sammelband von Weertje Willms lotet „Gender in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur“ aus

Von Lea GrimmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lea Grimm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gender (Trouble) hat spätestens seit Judith Butler und ihrer Rezeption in Deutschland zu einer Vervielfachung der (Diversity-)Diskurse geführt – auch in der Kinder- und Jugendliteraturforschung oder in der kinder- und jugendliteraturaffinen Deutschdidaktik. Häufig wird in diesen Diskursen (zu Recht, da in jenen Kontexten völlig angebracht) eine synchrone Perspektive eingenommen. Eine systematische diachrone Perspektive stand bisher noch aus. In diese Lücke tritt nun ein Sammelband von Weertje Willms.

Ein Band, der auf einem Preis beruht, weckt besonders großes Interesse. Weertje Willms, die Herausgeberin des 2022 erschienenen Sammelbandes Gender in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur, erhielt für ihr (in Kooperation mit dem Literaturhaus Freiburg) durchgeführtes Projektseminar „Genderaspekte in der Kinder- und Jugendliteratur“ (Sommersemester 2018) den Bertha-Ottenstein-Preis für Gender- und Diversity-Forschung. Der 527 Seiten starke Band, der auch als Open Access-Publikation verfügbar ist und bereits durch die Gestaltung des Einbands angenehm dezent auf Diversity hinweist, ist übersichtlich in zehn Sektionen gegliedert, die den im Band repräsentierten ‚Epochen‘ entsprechen (Mittelalter, Aufklärung, Romantik, Biedermeier, 19. Jahrhundert/Erster Weltkrieg, Weimarer Republik, NS-Zeit, Exil, 1945-1990, Gegenwart). Jede Sektion wird durch mindestens einen Beitrag bespielt, wobei der Schwerpunkt berechtigterweise eindeutig auf der Gegenwart liegt (1945-1990: fünf Beiträge; Gegenwart: sechs Beiträge). Besonders erwähnenswert ist der jeder umfangreicheren Sektion vorangestellte Epochenüberblick, den die Herausgeberin selbst leistet. Zusammen mit der Einführung, die (Gender-)historisch und (Gender-)theoretisch fundiert und dennoch in der gebotenen Kürze den Band eröffnet (und zu Recht auf die immer noch aktuelle, noch nicht überwundene Rosa-Hellblau-Falle hinweist), bilden die Epochenüberblicke ein wertvolles Kompendium und bereiten (auch in sprachlicher Hinsicht) wahren Lesegenuss.

Der Sammelband, der aufgrund seines sorgfältig gearbeiteten Autoren- und Werkregisters, seiner Systematik auf Makro- und Mikroebene (jeder Beitrag folgt einem bestimmten schlüssigen Aufbau – Überblick/gesellschaftlicher Kontext/pädagogischer Diskurs/Bedeutende Werke/ Exemplarische Analysen –  und enthält zudem ein Abstract) und seiner unaufdringlichen Instruktion ganz multifunktional Lexikon-, Handbuch- und Lehrbuchcharakter zugleich aufweist, bedient ein Forschungsdesiderat, das überfällig war. Erstmalig wird die Entwicklung der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur vom Mittelalter bis zur Gegenwart unter Genderaspekten dargestellt. Dabei bedeutet „Genderaspekte“ hier eine weit ausgreifende Auslotung des Felds mit der Trilogie Weiblichkeitskonzepte – Männlichkeitskonzepte – Geschlechterrelationen, mit einer intersektional orientierten Ausweitung auf weitere Differenzkategorien und mit einer beachtlichen gattungs- und genrebezogenen Vielfalt (die Fokussierung auf Print wird dem Buchtitel gerecht und überdies in der Einführung erklärt).

Fallanalysen zu Werken von Exilautoren aus Österreich, ein Beitrag zur Kinder- und Jugendliteratur der DDR sowie ein Beitrag zur Kinder- und Jugendliteratur über Mauerfall und Wende sorgen dafür, dass der Blick auf den deutschsprachigen Raum stets weitwinklig bleibt. Der Band, der unter anderem an Schilcher 2001, Müller/Decker/Krah/Schilcher 2016, Josting/Roeder/Dettmar 2016, Seidel 2019 und Standke/Kronschläger 2020 anschließt, versammelt Beiträge von bekannten und arrivierten Kinder- und Jugendliteraturforschenden (z.B. und ohne jeglichen Anspruch auf Vollständigkeit: Sebastian Schmideler, Jana Mikota, Susanne Blumesberger, Philipp Schmerheim, Annette Kliewer, Kirsten Kumschlies, Nils Lehnert).

Aus der Fülle der Beiträge sollen nun einige wenige exemplarisch herausgegriffen werden – vor allem, um Vielfalt und Einheitlichkeit zu illustrieren: Vielfalt, was die Auswahl der Gegenstände und Themen betrifft; Einheitlichkeit, was das Anliegen des Bandes betrifft, das jeweils Prototypische der besprochenen Epoche herauszustellen, damit der Leser sich wesentliche Entwicklungslinien angemessen erschließen kann.

Martina Backes zeigt, wie genderspezifische Verhaltensmuster über den Weg der literarischen Figur der ‚Vormoderne’ tradiert wurden. Der Blick auf die Rezeption mittelalterlicher Erzählstoffe in der Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart (wobei Iwein Löwenritter von Felicitas Hoppe eine Ausnahme darstellt) bringt Kontinuität statt Traditionsbruch zutage:

Im Schutze einer (pseudo-)historisierenden Mittelalterszenerie überwiegt jedoch in den […] Medien, in Filmen, Computerspielen und in Büchern weiterhin die hartnäckige Konservierung traditioneller Geschlechterrollen der patriarchalen Vormoderne.

Simone Loleit und Liane Schüller untersuchen das bisher als stereotyp eingestufte „Schweigen der Heldin“ in den Grimmschen Zaubermärchen und arbeiten ungeahnte Polyvalenz-Potenziale im Kontext einer visuellen Schwarz-Weiß- bzw. Schatten-Licht-Metaphorik heraus.

Sebastian Schmideler untersucht Entwicklungs- und Modernisierungslinien im Kontext der Biedermeierzeit und bezieht neben der Kernfamilie (Vater-Mutter-Kind) auch weitere Verwandte (Onkel-Tante-Großeltern) mit ein. Class, Race und Religion sind (weitere) von ihm feinsinnig ausziselierte Differenzkategorien, die sich zeittypisch in „Figuren der Abweichung“ manifestieren.

Joseph Kebe-Nguema widmet sich der Mädchenkolonialliteratur des Deutschen Kaiserreichs, einer atypischen Variante der Mädchenliteratur, und stellt unter intersektionalen und genderhybriden Gesichtspunkten eine Verbindung zum späteren NS-Idealbild eines Mädchens her.

Erich Kästners Kinderbuchklassiker Emil und die Detektive wird von Christian Heigel aus einer systemischen Perspektive heraus betrachtet:

Diese [Umbrüche] gehen mit zahlreichen Ungleichzeitigkeiten und Ambivalenzen einher, die sich nicht zuletzt in den zwischen traditionellen und progressiven Tendenzen verorteten Weiblichkeits- und Männlichkeitsentwürfen niederschlagen. Die Literatur wirkt an der Produktion dieser Geschlechterbilder mit und fungiert zugleich als kritisches Korrektiv.

Mit Beiträgen zu Der kleine Drache Kokosnuss oder zu Die drei !!! ist auch der populärkulturelle Bereich der Gegenwart bestens vertreten. Berücksichtigt wird ferner die gender-empirische Forschung. Mit dem Beitrag von Marie Flüh, Jan Horstmann und Mareike Schumacher, die in einem digitalen Mixed-Methods-Ansatz verschiedene Distant Gender Reading-Methoden erproben, um Stereotype in einem Textkorpus von 28 Werken der zeitgenössischen Fantasyliteratur für Jugendliche (rezipientenseitig) zu identifizieren, wird die Aufmerksamkeit unter anderem auf die im Genderrezeptionskontext so bedeutsame Emotionsanalyse gelenkt.

Zum Schluss soll der Sammelband (zusätzlich zur Lektüre-Empfehlung) noch wärmstens für den Einsatz in der hochschulischen Lehre empfohlen werden. Bei zehn Kapiteln für zehn Sitzungen, plus einer Einführungssitzung und einer Klausursitzung, wäre ein (kurzes) Sommersemester mit zwölf Terminen gut und sinnvoll ausgefüllt.

Titelbild

Weertje Willms (Hg.): Gender in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart.
De Gruyter, Berlin 2022.
IX, 527 Seiten , 89,95 EUR.
ISBN-13: 9783110726794

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