Urban Fantasy in der Provence
Sebastian Korndörfer macht aus einer Ratte „Die Botin der neuen Zeit“
Von Rainer Rönsch
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDank Sebastian Korndörfers Roman Der Rattenkönig (2021) weiß man vom Sieg des Hamburger Kriminalhauptkommissars Karl Hofstetter über den Rattenkönig Rattus. Zwei Jahre später lebt der aus dem Dienst ausgeschiedene Icherzähler Hofstetter in einem Dorf in der Provence, mit Frühstück unter einem rosa knospenden Mandelbaum.
Stadtfern also, dennoch darf man die Genrebezeichnung „Urban Fantasy“ beibehalten, weil auch diesmal fantastische Wesen in realer heutiger Umwelt erscheinen. Wie im ersten Roman bleibt Sebastian Korndörfer bei Ratten, übergroß und aufrechtgehend. Mit kuriosen Kängurus oder possierlichen Pandas wäre die Leserschaft leichter zu bezaubern. Ratten sind den Menschen grundsätzlich verhasst und leiden überdies als Versuchstiere.
Drei Ratten stellen sich auf Karls bäuerlichem Anwesen ein, in pastellfarbenes Leinen gekleidet. Ihre Wortführerin Lara gibt sich als gutherzige Tochter des bösen Rattenkönigs zu erkennen. Die von Karl als anmutige lichtumstrahlte Wesen beschriebenen Besucher brauchen seine Hilfe, denn der Herr der Finsternis will die Welt vernichten und kann nur von einem Menschen besiegt werden, der Angst und Hass überwindet. Karl bittet Lara um Vergebung für all den Schmerz, den die Menschen den Ratten angetan haben, und sie beschwört das Bild einer neuen Welt voller Harmonie herauf.
Die Ratten verfügen über einen fußballgroßen Bergkristall, der Erinnerungen und Visionen heraufbeschwören kann und später den Kontakt zum Herrn der Finsternis herstellen soll. Es kommt zu spirituellen Zusammenkünften („Satsangs“) Karls mit Lara als Lehrerin. Diese Passagen werden vom Autor durch kursive Schrift und die Verwendung des Präsens hervorgehoben. In gleichnishaften Texten geht es beispielsweise um einen Keimling, der durchs Erdreich stößt und eine mächtige Eiche wird, und ein Mädchen, dem niemand den Wasserfund in der Wüste glaubt. Ausgerechnet ein Weberknecht im Staubsaugerbeutel weist Bezüge zum Leben und Leiden des Jesus von Nazareth auf, bis hin zu den letzten Worten: „Rechnet ihnen diese Schuld nicht an, denn sie wissen nicht, was sie tun.“
Dank der Kristallkugel sieht Karl mehrere Episoden aus der Vergangenheit. Die Geschichte vom Großinquisitor, der sich in eine „Hexe“ verliebt und sie dem Feuertod überantwortet, ist spätestens seit 1831 nicht mehr originell – damals erschien Victor Hugos Roman Der Glöckner von Notre-Dame. Knapp und eindringlich hingegen wird erzählt, wie eine ältere Dame im Berlin der Nazizeit eine jüdische Mitbewohnerin rettet.
Die humanistische Grundhaltung Karls steht wie die seines Autors außer Frage. „Wir sind weder unser Beruf, Status noch unsere Errungenschaften und Besitztümer. Wir sind Menschen mit einer Würde.“ Aus dieser Erkenntnis erwächst die Hoffnung, authentische Menschen, die zur eigenen Verletzlichkeit stehen, würden auf Liebe und Verständnis stoßen. Sebastian Korndörfer stellt seine Website (www.mystisch-leben.de) unter das Motto „Christliche Spiritualität für Suchende“. Genau darum geht es Karl Hofstetter, der beim Meditieren ein wichtiges „Geheimnis der Zufriedenheit“ entdeckt hat: „Wo er war, wollte er sein.“ Seine Suche nach Gott ist von tiefem Ernst geprägt, leider zuweilen auch von allzu salbungsvollem Ton und von Eigenlob.
Karl begegnet spirituell seinem „inneren Ich“, dem Kind Karl, das unter der engstirnigen Mutter und dem gnadenlosen Vater gelitten hat. Dem Kleinen schenkt Karl die Liebe, die er selbst entbehren musste. Das ist so anrührend, dass man gegen Ende über die plötzliche Reue der Eltern hinwegsieht.
Auf Karls Befürchtung, er werde sterben, wenn die Welt im Chaos versinkt, aber auch, wenn er sich dagegen auflehnt, reagiert Lara zunächst lapidar mit „Gut erkannt!“ Oft aber macht sie wie er zu viele und zu große Worte.
Der Showdown zeigt den Herrn der Finsternis als stockhässlichen Alten, der Karl mit Reichtum, Jugendlichkeit und Macht ködern will. Karl lehnt ab, und seine Mutter behauptet, der strafende Richtergott kenne kein Erbarmen. Noch mit 61 Jahren soll Karl nach dem Willen des Alten an seinem Kindheitstrauma scheitern.
Karl und Lara werden von zwei mannsgroßen Falken aus einem einstürzenden Tempel gerettet. Ob es für beide ein Happy End gibt, sei hier nicht verraten. Mächtig gewaltig ist das Finale jedenfalls, doch eine fantastische Überdosierung der Effekte findet man in diesem Genre immer wieder.
Fortsetzung folgt? Wohl eher nicht.
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