Zum Tod von Tina Turner
Von Sascha Seiler
Am 24. Mai 2023 ist die Sängerin Tina Turner im Alter von 83 Jahren in Küsnacht in der Schweiz gestorben. Wer in den frühen 80ern aufgewachsen ist und um 1984 herum seine popmusikalische Sozialisation erfahren hat, kam an Private Dancer nicht vorbei.
In der Hochphase vom MTV wurde das Konzept des Megastars geboren, einzelne Alben wurden zu unverzichtbaren populärkulturellen Artefakten, die sich tief ins Unterbewusstsein derer eingebrannt haben, die sie damals konsumierten. Natürlich ist Michael Jacksons Thriller so ein Album, Princes Purple Rain, Madonnas Like A Virgin oder Bruce Springsteens Born In The USA. Die Videos liefen rauf und runter, gefühlt wurde jeder Song als Single ausgekoppelt (und mit einem weiteren Videoclip versehen), die Interpreten wurden zu Ikonen. Das Erstaunliche: Viele waren schon vorher da gewesen: Jackson als Kinderstar, Prince als nur mäßig erfolgreicher Funk-Pionier, Springsteen als Chronist der amerikanischen Arbeiterklasse. Und auch Tina Turner war schon lange da. Seit den 60er Jahren hat sie sich einen Ruf als Soul-Queen erarbeitet, an der Seite ihres gewalttätigen Ehemannes Ike Turner, mit dem sie Hits wie „River Deep, Mountain High“ und vor allem „Notbush City Limits“ hatte, in dem sie beschreibt, wie sie aus dem Kaff, aus dem sie herkommt, einfach nur abhauen will.
Jene klassische amerikanische Songwriterthematik wurde für Anna Mae Bullock, wie Tina Turner bürgerlich hieß, zum amerikanischen Traum und Alptraum zugleich. Zum einen waren da die riesigen Erfolge an der Seite ihres Ehemannes, auf der anderen Seite die Schläge und Demütigungen. Und irgendwann, nach der Trennung, auch das Vergessenwerden. Die Geschichte der Tina Turner ist natürlich aus diesem Grund vor allem auch die Geschichte einer weiblichen Selbstermächtigung, die in den Medien, einer Autobiographie und in einem halbgaren Kinofilm (und einem Musical) rauf und runter erzählt wurde, bis sie zu einem der großen Mythen des Pop wurde. Die wundersame Wiederauferstehung mit Private Dancer im Jahr 1984 ist auch aus heutiger Sicht nur partiell zu erklären. Natürlich kam hier einiges zusammen, was kein Zufall war: ein findiges Produzententeam, gutes Songwriting, nicht zuletzt auch die Kollaboration auch mit dem damals omnipräsenten Mark Knopfler, der ihr den Song „Private Dancer“ zwar irgendwie auf den Leib schrieb, sich aber gleichzeitig in einem recht dreisten Selbstplagiat bei seinem eigenen Song „Love Over Gold“ bediente. Und natürlich das berühmt gewordene Selbstermächtigungsvideo auf MTV zu „What’s Love Got To Do With It?“, in dem Tina in aufreizender Kleidung durch die Großstadtstraßen marschiert und den Jungs zeigt, wer der Herr im Ring ist. Fast wichtiger als die Musik war nämlich natürlich die Inszenierung: diese eigentlich unmögliche Frisur, die knappen Miniröcke der immerhin schon über 40-jährigen, diese selbstbewusste Sexualität einer Frau, die schon alles gesehen hatte.
Ikonographisch war auch ihre Rolle im ansonsten eher mauen dritten Teil der Mad Max-Reihe und die zugehörige Single „We Don’t Need Another Hero“, das vielleicht letzte gute Turner-Stück. Auf all das konnte Tina Turner eine zweite Weltkarriere aufbauen, obwohl die Folgeplatten eher mau waren. „Break Every Rule“ und die Leadsingle „Typical Male“ waren nur noch auf Hochglanz polierte Konfektionsware. Das 1989 erschienene Album „Foreign Affair“ war wieder bluesiger, aber irgendwie reihte sich Tina Turner in die vor allem in Deutschland populäre Liga der Gottschalk-Stammgäste ein, zu denen auch Joe Cocker und Bryan Adams zu zählen begannen.
Das Tollste an der vor allem hierzulande dennoch immer noch immens erfolgreichen Karriere der Tina Turner (wir wollen auch das wirklich gute Live-Album von 1990 nicht unter den Tisch fallen lassen) ist aber, dass sie gewusst hat, wann es genug ist. Bevor sie zu einer Oldie-Nummer oder gar zur Selbstparodie verkam, zog sie nach einem letzten Album 1999 den Stecker (nachdem sie in den zehn Jahren zuvor schon nicht mehr omnipräsent gewesen war) und verschwand aus der Musikwelt in die ruhige Schweiz. Das war ein kluger Schachzug, der ihren Mythos zementierte, der noch ein paar belanglose Platten vielleicht nicht ausgehalten hätte, was mit einem Blick etwa auf Rod Stewart bestätigt wird. So wird sie immer zweifach in Erinnerung bleiben: Als Soul-Diva der 60er und 70er Jahre sowie als Wiederauferstehung der 80er.
Hinweis der Redaktion: Ein Video mit etlichen Auftritten der Sängerin und einem Nachruf von Claudia Drexel wurde am 24. Mai nachts in den „Tagesthemen“ veröffentlicht: https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/tagesthemen/video-1199220.html.