Du darfst nicht weinen

Anne Rabes autofiktionaler Debütroman „Die Möglichkeit von Glück“ vermengt unterschiedliche Gattungen

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ich konnte die Wende als Kindergartenkind zwar noch nicht politisch einordnen, aber die Erfahrung, dass die eigenen Eltern aus der Bahn geworfen sind, war für viele meiner Generation prägend“, erklärte die 1986 in Wismar geborene Anne Rabe, die sich in ihrem Debütroman an der eigenen Familiengeschichte abgearbeitet hat. Schon während ihres Studiums (Germanistik und Theaterwissenschaft) wurden ihre Theaterstücke im In- und Ausland aufgeführt.

Hauptfigur Stine, deren biografische Eckdaten große Parallelen zu denen der Autorin aufweisen, wächst in einer Familie auf, in der das DDR-System zur Lebensphilosophie gehört. Opa Paul, Weltkriegsteilnehmer und später Schuldirektor, war überzeugter und ordenbekränzter Unterstützer des SED-Regimes und eloquenter Verteidiger des Schießbefehls an der innerdeutschen Grenze. Er war für Stine aber auch der liebevolle Großvater. Stines Mutter arbeitete als Erzieherin in einem Staatssystem, in dem Gewalt auch im Alltag ein großer Faktor war. Auch gegenüber ihren eigenen Kindern (Stine hat noch einen jüngeren Bruder) war sie streng, beinahe emotionslos und griff immer wieder zu schweren körperlichen Züchtigungen. So hat sie ihre Kinder in eine Badewanne mit kochendem Wasser gedrängt. „Ich sagte zu Tim: ,Du darfst nicht weinen. Sonst freut sie sich.‘“

Anne Rabe seziert im Rückblick ihre eigene Familiengeschichte. „Die Fragen, die Stine umtreiben, sind Fragen, die auch ich mir gestellt habe.“ Vor allem geht es darum, welche Auswirkungen ein totalitäres Gesellschaftssystem auf Familien und auf jedes einzelne Individuum hat. Es ist eine wenig erbauliche Geschichte vom Aufwachsen im Nachwende-Osten, die auch noch viel mit reproduzierter Gewalt in der DDR-Gesellschaft zu tun hat. Eine Kindheit und Jugend in den 1990er Jahren, als Altes wegbrach und das Neue nicht so recht ankommen wollte. Es ist von Aufbrüchen und Zäsuren die Rede – so auch, als Stine sich aus der beklemmenden Enge der Kleinstadt an der Ostsee (es wird nicht ausdrücklich Anne Rabes Geburtsstadt Wismar genannt) nach Berlin absetzt, wo sie selbst eine Familie gründet – immer als Leitmotiv im Hinterkopf, eine bessere Mutter als die ihre zu werden.

Bei den von Anne Rabe in den Text eingeflochtenen Recherchen geht es um in der DDR weitestgehend tabuisierte Themen wie Kindesmisshandlung und sexualisierte Gewalt in den Familien. Faschismus, sowjetische Besatzung und das SED-Regime: 66 Jahre, in denen Gewalt und Einschüchterung zur Durchsetzung politischer Ziele (sowohl in Familien als auch von Staats wegen) zum Alltag gehörte. Der DDR-Staat hat Spuren hinterlassen, physische und psychische Narben – auch bei den Nachgeborenen. Anne Rabe lässt ihre Protagonistin konstatieren: „Alle Familien haben solche Geschichten. Gemeinsame Erlebnisse, die eine Familie zu einer Familie machen.“ Stine recherchiert in Archiven über die Methoden im Jugendwerkhof, einer Einrichtung für sogenannte schwererziehbare Kinder. Dabei mussten sich Heimzöglinge an Tagen, an denen die Äcker mit Chemie besprüht wurden, am Rand aufstellen und erhielten so auch eine entsprechende „Dosis“. Perfide, menschenverachtend – einfach nur schrecklich. Stines Mutter will als Erzieherin davon nichts gewusst haben. Schweigen, Verschweigen und Verharmlosungen prägen den Nachwende-Alltag. Was machen Diktaturen mit Familien, mit den einzelnen Individuen? Werden Verhaltensschemata aus der „dunklen Zeit“ (bewusst oder unbewusst?) unreflektiert übernommen?
Und was geschieht nach einer (Zeiten-) Wende mit staatstragenden Funktionären, was mit Systemkritikern? Und letztlich steckt hinter all denen jeweils ein Einzelschicksal. Für Stine ist die Familiengeschichte eine Last, von der sie sich offensichtlich nur peu à peu befreien kann.

Anne Rabe hat in ihrem Erstling, der eine Mischung aus Archivrecherchen, Familiengeschichte, Essay und Autofiktion bietet, messerscharf formuliert. Ihre Sprache wirkt bisweilen so hart und kühl wie die beschriebenen Inhalte. Die Möglichkeit von Glück ist ein Buch voller Zwiespälte, eines, das bei der Lektüre Schmerzen entfachen kann, das aber ohne jedes Pathos und ohne den erhobenen pädagogischen Zeigefinger auskommt. Ein beachtliches Debüt mit Lehrbuchcharakter. 

Titelbild

Anne Rabe: Die Möglichkeit von Glück.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2023.
380 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783608984637

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