Gespenstische Zeiten

A.L. Kennedy unterzieht im Roman „Als lebten wir in einem barmherzigen Land“ die britische Gesellschaft einer grimmigen Kritik

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wir können unsere Schwierigkeiten auch einfach Hass nennen.“ Dieser Satz steht auf den ersten Seiten eines langen Essays, den A. L. Kennedy unter dem Titel Der Kern der Dinge vorgelegt hat. Die Autorin schildert darin, wie sie sich schreibend aus dem Schatten von Long Covid zu befreien sucht, dessen „Gehirnnebel“ ihre literarische Arbeit wie ihr persönliches Leben in den letzten zwei Jahren stark beeinträchtigt hat. Sie bangte um ihre Konzentration und trauerte um Freunde, die verstarben, während die britische Regierung sich darin gefiel, mal dies, mal das, mal nichts gegen Covid vorzukehren, weil es sie nicht kümmerte, was mit den Schwächsten im Land geschieht. A. L. Kennedys Urteil fällt harsch aus. Als Schriftstellerin müsse sie „unbarmherzig“ sein, schreibt sie: „aber nur so, wie es die Liebe erlaubt“. Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich ihr Essay und ebenso auch der neue beeindruckende Roman Als lebten wir in einem barmherzigen Land.

Darin erzählt Kennedy von der engagierten Grundschullehrerin Anna Louisa McCormick, die die britische Misere unter dem Covid-Lockdown und nach Brexit hautnah miterlebt. Das Land wird von einer Garde von „Stilzchen“ regiert, wie Anna sie nennt, die politisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich den Ton angeben. Diese Stilzchen kümmern sich um keine Verantwortung, vielmehr frohlocken sie heimlich unter ihresgleichen: Oh wie gut, dass niemand merkt … Aber wie im Märchen wird trotzdem publik, welche Namen, welche Masken sie tragen. Anna ist wütend auf diese Regierungs-Stilzchen, zugleich versucht sie, in ihrem Londoner Häuschen trotz all der Turbulenzen die Ruhe zu bewahren. Ihr eben erwachsen gewordener Sohn Paul steckt sie mit seiner Gelassenheit an. Zudem freut sie sich darauf, später, wenn alles vorbei sein würde, mit Francis auf eine schottische Insel umzuziehen. Vor allem aber hat sie im Lockdown erst recht eine schulische Aufgabe zu erfüllen. Über Zoom und auf Hausbesuch versucht sie, die Notlage der Kinder zu lindern. Ihre Schützlinge sollen die Zeit so unbeschadet wie möglich überstehen.

In ihrem Notizbuch hält sie fest, was sie in diesen Monaten bewegt. Sie schreibt es auf, weil sie darüber nicht reden möchte, denn der tiefere Beweggrund für ihre Notizen ist gar nicht Covid. Jüngst ist Anna ein Gespenst aus der Vergangenheit begegnet, das höchst ungute Gefühle in ihr ausgelöst hat. Buster heißt es. Vor Jahrzehnten, in den 1980er-Jahren, war Anna Teil einer Theatertruppe, dem UnRule OrkestrA, das auf der Straße oder aus Anlass von Streiks und Antikriegs-Protesten ihre anarchischen Performances aufführte. Irgendwie stieß eines Tages „Buster“ hinzu, der im richtigen Leben anders hieß und den Anna nach Buster Keaton benannte. Anna mochte ihn. Buster spielte mit, ohne dass jemand bemerkte, dass er noch einen anderen Auftrag hatte. Er war Mitglied der Londoner Metropolitan Police, die dafür berüchtigt war, dass sie gesellschaftliche Gruppen infiltrierte und zu radikalen Taten anspornte. Er brachte Unheil ins UnRule OrkestrA. Als seine wirkliche Rolle ruchbar zu werden drohte, verschwand er spurlos. Für Anna wurde er zum „Stilzchen – ein König der Stilzchen, einer der schlimmsten“, ein Intrigant im Sold der Regierung. In ihrem Herzen aber ist Buster ein Stachel geblieben. Als sie ihn Jahrzehnte später an einer Gerichtsverhandlung unter seiner Maskerade wiedererkennt und ihn durch die Londoner City verfolgt, stoßen ihr alle die wütenden Gefühle von einst wieder auf. Sie versucht, sie in ihrem Notizbuch festzuhalten, weil sie sich schreibend hier sicher fühlt und von niemandem manipuliert. In einem ebenso munteren wie von Ängsten und Wut gezeichneten Parlando berichtet Anna McCormick so aus ihrem Alltag auf der Suche nach Gewissheit über ihre persönliche Situation und über die widerstreitenden Empfindungen gegenüber ihrer Vergangenheit. Es ist vor allem diese Suchbewegung, mit der A. L. Kennedys Roman auf sanfte Weise seine Leserinnen und Leser berührt. Anna trägt das Herz auf dem rechten Fleck, was sie aber nicht davon abhält, harsch über den Zustand Großbritanniens und seiner Eliten zu urteilen. Ob all der Legionen von Trauernden und durch die Krise Enteigneten sei es, notiert sie, „als befände man sich in einem apokalyptischen Märchen über das dumme Ende eines sehr dummen Landes“.

Eines aber bleibt: „Buster ist Buster.“ Kurze Zeit nach der überraschenden Begegnung mit ihm findet Anna vor ihrer Haustüre einen Umschlag und darin beschriebene Blätter, die so etwas wie eine Lebensbeichte beinhalten. Sie stammen von Buster. Darin beschreibt dieser, wie er nach seiner Flucht aus dem UnRule OrKestrA den Dienst bei der Polizei quittierte und zum Killer wurde. In dubiosem Auftrag erledigte er „böse“ Menschen, Kinderschänder, Mafiosi. Nach kurzem Erschrecken fügt Anna diese Blätter – ob alle oder nur ein Teil, bleibt offen – in ihren Bericht ein und verleiht diesem so eine zweite Erzählspur. Busters Berichte beschreiben, jeweils mit Ort und Jahr gekennzeichnet, einen bis zur Selbstverleugnung beherrschten Menschen, der völlig in seiner Rolle aufgeht. Dem entspricht seine glasklare, nüchterne Schreibweise, die scharf kontrastiert mit dem warmen Parlando der ebenso menschenfreundlichen wie verunsicherten Anna. Im Stil manifestiert sich ihre Ungleichheit, und dennoch trachtet Buster mutmaßlich danach, sich vor Anna zu erklären; offen bleibt, ob er es als Rechtfertigung, als Schuldbekenntnis oder gar als testamentarischen Schlusspunkt tut. Anna hebt die Berichte auf, damit sie verraten, „was in den Ungeheuern steckt, die nicht nach Ungeheuern aussehen, was unter der Welt liegt, die freundlich und normal wirkt“. Diese Unsicherheit bietet durchaus auch Grund für ein verschwörerisches Raunen, das durch Kennedys Roman hindurch weht. Tatsächlich war und ist Buster keine Schimäre. Hinter seiner Maske verbirgt sich ein Namensvetter der Autorin, Mark Kennedy, der in den Nullerjahren als V-Mann für die Metropolitan Police in England und auch in Deutschland aktiv war. Für Anna ist er ein Stilzchen, für A. L. Kennedy Repräsentant des britischen Klassensystems und von dessen Zynismus. „Nicht jeder ist ein Dreckskerl“, schreibt sie unverblümt in ihrem Essay: „Nur haben die Dreckskerle das Sagen.“

Die Faszination des Bösen, verkörpert durch Buster, und die Empathie von Anna, der Grundschullehrerin, sind für A. L. Kennedy die zwei Gesichter Großbritanniens: hier die unverfrorenen Stilzchen, egal ob sie Buster, Boris oder Nigel heißen, dort die Menschen, die täglich mit der ökonomischen Misere konfrontiert sind und daraus das Beste zu machen versuchen. Kennedy hat nie einen Hehl aus ihrer Gegnerschaft zum Brexit und zu der ihn befürwortenden Elite gemacht. Auf umsichtige, berührende Weise arbeitet sie den Konflikt in ihrem Roman ab, in rhetorisch pointierter Weise äußert sie die Kritik in Der Kern der Dinge. Hierin bezeichnet sich Kennedy selbst als Autorin, die sich schreibend dem „Inneren des Menschen“ widmet. Das hat ihr in der Literaturkritik schon die Zuschreibung als Autorin der Innerlichkeit eingetragen, was so richtig wie missverständlich ist, denn A. L. Kennedy ist eine eminent politische Autorin. Beides findet in Als lebten wir in einem barmherzigen Land zu einer Einheit, indem darin nicht ein narzisstisches Ego herausgeschält wird, vielmehr wird Anna McCormick als eine ausgesprochen soziale engagierte Persönlichkeit sichtbar, deren innere Kämpfe und Blockaden eng mit ihrem gesellschaftlichen Selbstverständnis und ihrer politischen Haltung verzahnt sind. Aus ihrer Sicht und mit ihren Erfahrungen schärft Kennedy den Blick auf die britische Gesellschaft. Anna ist beileibe keine Extremistin, aber sie ist wütend über die Versäumnisse einer Regierung, die dem Volk einen harten Lockdown auferlegt, nur um sich eigene Freiheiten herauszunehmen. Die Realität hat genügend Beispiele dafür geliefert. „Scheiß auf die Stilzchen“, notiert Anna kurz. 

In dieser Hinsicht steht sie ihrer Autorin nahe. Die Enttäuschung über falsche Versprechungen und politische Lügen macht auch A. L. Kennedy müde und wütend und rigoros in ihren politischen Urteilen, die sie in Interviews oder in den Kolumnen für die Süddeutsche Zeitung kundtut. Im Kern der Dinge schreibt sie, dass sie es aufgegeben habe, „für ein britisches Publikum über Politik zu schreiben“. Das lenkt den Blick auf eine seltsame Konstellation, die Roman wie Essay betrifft: Beide sind bisher nur auf Deutsch erschienen; es gibt davon keine englischen Ausgaben. Kennedy spielt mit dem Gedanken, dass auch ihr Essay „nur außerhalb meines Landes gelesen werden wird, aber zumindest kann es gelesen werden“. Vielleicht ist das nicht das letzte Wort, aber es bezeugt die Enttäuschung über die britischen Verhältnisse nach Brexit, die inzwischen 90% der Bevölkerung teilen. Sowohl der Roman wie der Essay sind, nachdem die Autorin ihre Wohnung in London aufgelöst hat, in einem abgelegenen Gastdomizil in den Wäldern des Bundesstaats New York entstanden. Das Essay Der Kern der Dinge hat A. L. Kennedy unter das Beckettsche Motto „Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern“ gestellt, um sich zum Schluss Großes vorzunehmen: „Ich versuche, in der Praxis der Liebe voranzukommen, auf den Wegen der Liebe. Es fällt mir nicht leicht und – wie Sie, wie wir alle habe ich nur begrenzte Zeit.“ Ihren inneren Widerstreit umschreibt sie dabei als hoffnungsvollen Pessimismus: „die praktische Option und eine Lehre unterdrückter Gemeinschaften, die trotz allem überleben“. Diese Haltung teilt auch ihre Protagonistin Anna McCormick, die am Ende des Romans notiert, sie versuche „so zu leben, wie ich es in einem barmherzigen Land tun würde. Ich hoffe immer noch auf dieses lange und glückliche Leben. Das tun Menschen, sogar einfache Menschen.“ Es sind diese Hoffnungen, dieses Engagement, die warme Empathie, die den kraftvollen, kernigen Roman zur eindrücklichen Lektüre machen. Bei aller politischen Rigorosität hat sich A. L. Kennedy die Liebe zu den Menschen bewahrt.

Titelbild

A. L. Kennedy: Der Kern der Dinge.
Aus dem Englischen von Ingo Herzke.
Geparden Verlag, Zürich 2023.
320 Seiten, 28,80 EUR.
ISBN-13: 9783907406038

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Titelbild

A. L. Kennedy: Als lebten wir in einem barmherzigen Land. Roman.
Aus dem Englischen von Ingo Herzke und Susanne Höbel.
Carl Hanser Verlag, München 2023.
464 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783446276246

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