Erster Drehort: Trümmerfeld

„Die blaue Mütze“ und andere Geschichten aus dem Leben des Schauspielers Charles Brauer

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Schreiben heißt, auf die Welt verzichten – dazu ist keine Zeit mehr!“. Mit diesen das Buch einleitenden Worten riet Charles Brauers Freund und Kollege Manfred Krug ihm von einer Autobiografie ab. Die hat Charles Brauer nicht geschrieben, doch erzählt er unter dem Titel Die blaue Mütze 22 Geschichten aus seinem Leben, anschaulich ergänzt durch Fotos und abgelichtete Dokumente.

Charles Brauer? Den 1935 geborenen Schauspieler meint man zu kennen: Als ältesten Sohn der Familie Schölermann, die ab 1954 zum Straßenfeger wurde. Als Kommissar Peter Brockmöller, sechzehn Jahre lang der Partner von Manfred Krug im Hamburger Tatort, schon bald inklusive Jazz-Gesangsduetten, mit Goldener Kamera und Goldener Schallplatte geehrt. Als Synchronsprecher für so berühmte Schauspieler wie Adolphe Menjou (ja, der mit dem Bärtchen), Donald Sutherland und Roy Scheider sowie als „Stimme“ von John Grisham in Hörbüchern nach zahlreichen Thrillern des US-amerikanischen Bestsellerautors, der ihm dankbar mitteilte: „Ich werde weiter schreiben, und Sie werden weiter einlesen.“

Alles gut und wichtig, doch damit kennt man den in der Schweizer Heimat seiner Frau lebenden Schauspieler Charles Brauer noch lange nicht. Das von einem Schweizer Verlag herausgebrachte Buch gibt Einsicht. Brauer hat jahrzehntelang auf den Brettern gestanden, die die Welt bedeuten, und das deutsche Theaterleben an verschiedenen Häusern mitgeprägt, darunter zwanzig Jahre am Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Neben der künstlerischen Leistung galt der Einsatz des aufrechten Künstlers als Ensemblesprecher und im Betriebsrat den Interessen seiner KollegInnen. Seine demokratische und progressive Grundhaltung wird knapp angedeutet; Brauer hat es nicht nötig, damit hausieren zu gehen.

Für den Laufbahnstart von Schauspielerinnen und Schauspielern kennt man verschiedene „Drehbücher“: das Fehlen freier Berufswahl in einer Theaterdynastie oder aber den Widerstand der Eltern, die den Nachwuchs in einem „ordentlichen Beruf“ sehen wollen – nebst vielen Zwischenlösungen. Bei Charles Brauer, der damals noch Charles Knetschke hieß, begann es völlig anders. Wie er „entdeckt“ wurde, ist eine filmreife Szene.

Geschildert wird sie in der ersten Geschichte Die blaue Mütze. Sie zeigt einen Berliner Jungen im eiskalten März 1946, der eine französische Mütze aus himmelblauem Samt aufhat. Charles muss sie tragen, obwohl er sie hasst. Beim Aussteigen aus der Straßenbahn wird er von einem Mann angesprochen, der einen Film über Berliner Kinder drehen will. Das intellligente Gesicht und die unbekümmerte Art von Charles Knetschke sind ihm aufgefallen. Dieser Mann ist Gerhard Lamprecht, in dessen Regie 1931 der überaus erfolgreiche Film Emil und die Detektive nach dem Roman von Erich Kästner entstand. Lamprecht gibt dem Elfjährigen eine Rolle in Irgendwo in Berlin, dem dritten DEFA-Film, mit einem Trümmerfeld als Hauptdrehort. Die Gage macht den Jungen zum Haupternährer der Familie, mit der Lebensmittelkarte für Schwerstarbeiter als Zugabe.

Hier kann auf keine der anderen Geschichten einzeln eingegangen werden, die Charles Brauer (so nennt er sich seit 1952, nach dem Mädchennamen der Mutter, gegen eine Gebühr von 180 Mark) in einem Ton erzählt, der an Schillers Ausspruch erinnert, dass Einfachheit das Resultat der Reife sei. Es faszinieren das wechselvolle Künstlerleben, die uneitle Bewertung der eigenen Leistung und die Fairness gegenüber Menschen, von denen Charles Brauer sich getrennt hat, ob Ehefrauen oder Regisseure.

Beim Lesen stößt man auf eine Fülle berühmter Namen. Kein „name dropping“, denn all diese Prominenten haben den Weg des Autors nicht nebenher gekreuzt, sondern waren ihm künstlerisch und persönlich wichtig, darunter Agnes Fink, Witta Pohl und Lisi Mangold (die beiden letztgenannten auch privat Brauers Partnerinnen) sowie Gustaf Gründgens (köstlich die Geschichte Abgeschnappt, die den umstrittenen Theatermann von einer wenig bekannten Seite zeigt), Ernst Wendt und Götz George. Von ihnen allen spricht der Autor mit Anerkennung und Respekt; „nervtötende, besserwisserische Regisseure“ hingegen werden nicht beim Namen genannt.

Die über 130 Kino- und Fernsehfilme, die Hörbücher und Hörspiele des Charles Bauer sind zum Teil noch greifbar. Doch man hat viel verpasst, wenn man ihn nie auf der Bühne sah. Er verkörperte in sieben Jahrzehnten so unterschiedliche Typen wie Henry Higgins in My Fair Lady, Bassa Selim in Die Entführung aus dem Serail und die böse Hexe in Der Zauberer von Oz.

Sind die Geschichten ausgelesen, stellt sich Verwunderung ein. Denn nachdem so viel über Charles Brauer aus erster Hand zu erfahren war, wird das Thema unter dem schlichten Titel Charlie noch aus zweiter Hand aufbereitet. Aus geschickter und berufener Hand freilich: Der deutsch-schweizerische Autor und Regisseur Thomas Blubacher erzählt die Biographie des Charles Brauer kenntnisreich, voller Anerkennung, aber ohne Lobhudelei, so dass man die Zugabe gern akzeptiert.

Titelbild

Charles Brauer: Die blaue Mütze. und andere Geschichten aus meinem Leben.
Zytglogge Verlag, Oberhofen 2023.
200 Seiten , 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783729651142

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