Für die Heimatlosen

In „Die Verräter“ macht Artur Weigandt verständlich, wie die Menschen aus dem postsowjetischen Raum über die Konflikte in Osteuropa denken

Von Martin SchönemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Schönemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Journalist Artur Weigandt wurde 1994 in Kasachstan geboren, aufgewachsen ist er in Deutschland. Diese besondere Biografie prädestiniert ihn, über Menschen in und aus dem geografischen Raum zu berichten, den ehemals die Sowjetunion umfasste, und mit diesem Thema ist er auch in den deutschen Zeitungen – von taz bis Welt – präsent. Dass er nun auch ein Buch darüber geschrieben hat, klingt zunächst wie eine Gelegenheitsarbeit. Umso mehr überrascht die Dringlichkeit und Überzeugungskraft, mit der es westeuropäische Lesende anspricht. Das Buch öffnet die Augen für die Probleme Osteuropas und insbesondere den Ukraine-Krieg, und zwar auf eine Weise, wie es den ideologisch verhärteten Fronten der Diskussion hierzulande sehr guttut: Weigandt geht es nicht um die Abwägung verschiedener Interessengruppen oder gar Ideologien – es geht ihm um eine davon unabhängige Wahrheit.

Diese Wahrheit findet sich, wenn man die konkrete Lebenswirklichkeit der Menschen anschaut und Einzelschicksale miteinander vergleicht. Entsprechend geht der Autor nicht analytisch vor, sondern versammelt eine lose Folge reportageartiger Texte, aus Kasachstan, aus der Ukraine, aber auch aus dem migrantischen Milieu in Deutschland. Häufig fußen sie auf Szenen aus dem Leben des Autors oder dem seiner Eltern, manchmal auf Begegnungen mit Menschen aus seinem Umfeld – immer jedoch auf direkter persönlicher Anschauung. Das macht sie so aufschlussreich für westliche Lesende.

Denn die Einzelszenen stehen auch exemplarisch für größere Zusammenhänge. Bei Weigandts Geburt unterlief den Ärzten ein Fehler, sodass er einen Wirbelsäulenschaden davontrug. Das Krankenhaus ließ die Akte mitsamt der Geburtsurkunde verschwinden und behauptete, er sei dort nicht geboren worden. Nur durch Bestechung konnte die Mutter eine genauere Untersuchung des Säuglings erreichen. Das Resultat: Die Ärztin erklärte, nichts tun zu können, und empfahl der Mutter, nach Deutschland zu gehen, dort könne man helfen. Dieses Beispiel demonstriert nicht nur den Zusammenbruch der Zivilisation im postsowjetischen Raum der 90er Jahre, es zeigt auch, wie eine sowjetische Untugend dort nach dem Ende des alten Staates weiterlebte und sich noch verstärkte: den Menschen die Identität zu nehmen, sie unsichtbar zu machen. Weigandt will diesen Unsichtbaren, zu denen auch er gehört, eine Stimme geben, er widmet sein Buch „den Heimatlosen“.

So ist es kein Wunder, dass die Geschichten oft um das Thema der kulturellen Identität kreisen, wobei sich zwei Konzepte gegenüberstehen: die Idee des homo sovieticus als Mitglied einer übernationalen Gemeinschaft und die Idee der Sowjetunion als einer multinationalen Gemeinschaft verschiedenartiger Volksgruppen. Wieder kann Weigandt seine Person als Beispiel heranziehen: Sein Vater hat deutsche, seine Mutter belarussische und ukrainische Vorfahren. So kann er zahlreiche Beispiele dafür anführen, wie in sozialistischen Zeiten beide Narrative von den Herrschenden je nach Bedarf genutzt wurden: Da gab es den Druck, Menschen ihrer ethnischen Herkunft zu entfremden, beispielsweise kasachische Nomaden in Plattenbauten anzusiedeln. Das war erwünscht, sofern es einer Russifizierung der Entwurzelten dienen konnte. Andererseits war aber auch der kleine Alltagsrassismus willkommen, Nationen gegeneinander auszuspielen, etwa wenn Weigandts Mutter ihrer ukrainischen Herkunft wegen „Banderevka“ genannt wurde, um sie in Bezug auf den ukrainisch-nationalistischen Politiker Stepan Bandera als Faschistin zu markieren.

Was nach 1991 aus diesen Narrativen wurde, auch darüber erzählt der Autor Interessantes, das ich hier nicht vorwegnehmen möchte. Weigandts Buch öffnet deutschen Lesenden die Augen dafür, was es bedeutet, aus einem der postsowjetischen Staaten zu stammen. Wer Die Verräter liest, wird danach anders, unvoreingenommener über Osteuropa denken, jedenfalls ging es mir so. Vielleicht vermeidet mensch nach der Lektüre so typische Denkfehler wie das spontane Hereinfallen auf Propagandaerzählungen rings um den Ukrainekrieg. Ganz sicher aber wird mensch hier lebende postsowjetische Menschen nicht mehr pauschal als „Russen“ verehren oder gar rassistisch verachten, ohne auf ihre wahre Identität zu achten.
Insofern sollten sich Lesende von dem etwas gekünstelten Titel des Buches nicht abschrecken lassen –  Erzählungen gefährlicher Verräter mögen die Texte des Buches für Menschen sein, die sich in den Maximen sowjetischer, post- oder antisowjetischer Ideologie eingerichtet haben. Für alle anderen hat dieser vermeintliche Verrat, der ungefilterte Blick auf den Alltag von Menschen in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, etwas außerordentlich Befreiendes.
Auch deshalb ist dieses kluge, wahrhaft aufklärerische Buch ein wohltuendes Leseerlebnis.

Titelbild

Artur Weigandt: Die Verräter.
Carl Hanser Verlag, München 2023.
176 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783446275904

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch