Ein Mann, der seine Gefühle versteckt

„Der graue Peter“ wird dank der Schreibkunst des Autors Matthias Zschokke unverwechselbar

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Polizistin teilt einem Mann in einem Berliner Büro mit, sein Sohn sei von einem Lastwagen überrollt worden und gestorben. Kurz darauf fragt dieser Mann die Polizistin, ob ihr auch immer die Füße wehtäten. Im Roman von Matthias Zschokke heißt er einfach Peter. Oder Saint-Blaise, das war sein Spitzname, als er täglich aus dem Dorf dieses Namens mit dem Bummelzug zur Schule im deutschsprachigen Teil der Schweiz fuhr.

Warum reagiert Peter derart gefühllos? Das erklärt der Autor in einem Interview: „Er bemüht sich, von seinen Empfindungen nur die zuzulassen, die er beim besten Willen nicht verstecken kann.“ Peter sieht sich als einer von vielen grauen Peters, alltäglich, verwechselbar, nicht der Rede wert.

Im Roman werden vier Kontaktpersonen näher vorgestellt, keiner der Erwachsenen ist ohne Absonderlichkeit. Ein kleiner fremder Mann nimmt alltäglich den Fenstertisch im Café in Beschlag, an dem es sich gut Zeitung lesen lässt. Von Peter angesprochen, macht der Mann ihm Platz. Er hat im Radio etwas über einen Kriminalfall gehört und erzählt alles haarklein. In Peter weckt dies insgeheim den Wunsch, auch einmal einer schönen Mörderin zu begegnen.

Peters taggenau gleichaltriger Kollege im Büro ist dick, bleich und zuckerkrank. Nur Peter kennt seinen Spitznamen „Prosciutto“, der daher rührt, dass ihm Kollegen bei einem Italienurlaub eingeredet haben, „Guten Tag!“ heiße auf Italienisch „Prosciutto“, woraufhin er ständig so grüßte. Der Kollege sammelt Zeitungsauschnitte, vor allem Nachrufe auf nichtprominente Berliner. Er gehört einer Sekte an, die daran glaubt, als Lohn für gottgefällige Lebensführung eines Tages von einer Wolke abgeholt zu werden.

Eine Dienstreise Peters in die Partnerstadt Nancy nutzt der Autor dazu, allerlei Oberflächlichkeiten bei Städtepartnerschaften zu karikieren. So hat man im betreffenden Berliner Stadtbezirk sämtliche Einwohnerinnen und Einwohner ermuntert, vorübergehend „einen Schritt Richtung französisches Laisser-faire zu wagen und alles, was nicht verboten war, als erlaubt zu betrachten.“ Darüber soll Peter in Nancy berichten, aber nicht mehr sagen, denn „Franzosen würden lieber essen und trinken und selber reden als zuhören.“

Als Peter die Heimfahrt antritt, bekommt er es mit einer jungen Mutter zu tun, die einerseits wie eine Übermutter und andererseits leichtfertig wirkt. Ihrem Sohn Zéphyr hat sie eine orangefarbene Schwimmweste übergezogen, weil irgendwo ein Fluss über die Ufer trat. Und wegen der Winterorkane in den Alpen gibt sie ihm einen schweren Seesack voller Bleibeutelchen mit, die er sich in die Taschen stecken soll, bevor er auf die Piste geht. Andererseits lässt sie Zéphyr erstmals allein reisen, nach Basel, wo ihn ein Onkel abholen wird.

Peter soll sich des Jungen annehmen, weil der Zug wegen einer Fahrplanänderung nur bis Straßburg fährt. Nach einigem Zögern sagt er zu und stellt mühsam den Kontakt mit Zéphyr her. In Mülhausen/Mulhouse, wo Peter eine gute Konditorei kennt und Zéphyr eine Tante hat, unterbrechen beide die Fahrt. Sie finden die Tante nicht. Im kalten Fluss Ill, in einem Kino mit 5-D-Spektakel und in einer Umkleidekabine erleben die beiden so manches, bei dem der Erzähler zur Höchstform aufläuft. Wer hätte von Peter erwartet, dass er dem Mädchen an der Kinokasse nach allen Regeln der Kunst einen Pickel ausdrückt? Im Hotelzimmer wird aus Peters bis dahin eher hilflos-onkelhafter Art eine nahezu väterliche Zuneigung. Den skurrilen Dialog über Prügelstrafe und Penislänge macht diesem Autor niemand nach.

Schließlich gelangen beide nach Basel. Das Ende ist tragisch, die Details sollen hier nicht „gespoilert“ werden. Vom produktiven und vielfach preisgekrönten Autor Matthias Zschokke, der sich den Launen des Buchmarkts nicht unterwirft, ist keine Wohlfühlliteratur zu erwarten. Dennoch bedauert man, dass Peter, dem die Eltern und die Ehefrau fremdgeblieben sind, ausgerechnet dann untergeht, als er eine Beziehung zu einem anderen Menschen hergestellt hat.

Problematisch erscheinen die bereits auf der zweiten Textseite einsetzenden häufigen Fragen des auktorialen Erzählers an sich selbst, in der Art von „Vielleicht dies und das erwähnen?“ Möglicherweise als Einblicke in die Schriftstellerwerkstatt gedacht, unterbrechen sie den Erzählfluss und vergrößern die Distanz zu den handelnden Personen.

Die Sprache des Autors ist klar, bildhaft und klangvoll. Scharfzüngige Formulierungen sind ihm nicht fremd: „In Berlin weht der Wind meistens aus dem Westen, wo die wohlhabende, gut riechende Bevölkerung lebt.“

Im bereits erwähnten Interview fragt er sich, ob es statt „Kopfhörer“ inzwischen „Kopfhörerinnen“ heißen müsse. Ein billiger Scherz? Wohl eher Protest.

Einmal ist davon die Rede, dass auch schicksalslose und verwechselbare Menschen den Anspruch haben, eine Stimme zu bekommen. Peters Zuneigung wird im Roman folgendermaßen beschrieben: „Und eine heiße Welle von Sympathie zu allen Stumpfen, Faden und Empfindungslosen überflutete ihn.“ Es fällt schwer, dieses heiße Gefühl mit Peter zu teilen, doch die Anteilnahme an ihm und Zéphyr steigert sich von Seite zu Seite.

Eine Forderung Peters an sich selbst lautet, „[…] er müsse sich davor hüten, etwas Außerordentliches erzählen zu wollen […]“. Matthias Zschokke aber erzählt die außerordentliche und tragische Geschichte eines seine Gefühle unterdrückenden Menschen, dem unser Mitgefühl gilt.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Matthias Zschokke: Der graue Peter.
Rotpunktverlag, Zürich 2023.
160 Seiten, 24 EUR.
ISBN-13: 9783858699770

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch