„Ich brauche für mein reiches Leben eine Form, in der es erst sich mir zeigt“ (sonst „habe ich nie gelebt“)
Peter Handkes Notizbuch aus dem Jahr 1978 erschien mit dem Titel „Die Zeit und die Räume“
Von Sabrina Huber
Besprochene Bücher / LiteraturhinweisePeter Handke sucht Formen, nimmt sie wahr, erschreibt sie sich und zeichnet sie auf. Die Form seines Lebens ist wohl das Notizbuch. Seine Notizhefte umfassen bis heute über 35.000 Blätter – diejenigen Blätter vom 24. April bis zum 26. August des Jahres 1978 sind, einschließlich einiger Faksimiles, anlässlich seines 80. Geburtstages im Suhrkamp Verlag erschienen.
Es sind aber weniger Notizen als Aufzeichnungen. Als Leserinnen und Leser vollziehen wir nämlich das Aufzeichnen des Autors nach: Wir lesen, was und vor allem wie er wahrnimmt, und das Wahrgenommene festzuhalten versucht. So begegnen wir im Buch zumeist einzelnen Sätzen, manchmal auch nur poetisch klingenden Wörtern und Komposita wie „Wunscherfüllungsbedürfnis“ oder „Gehirnklaffen (aus eigener Schuld)“. Hier und da sind es eher Sprachproben und Schnipsel, die nur durch ihre Funktion für den Schreibenden zusammenhängen. Sie alle sind aufgezeichnete Wahrnehmungen in Raum und Zeit oder besser: durch Raum und Zeit. „Raumwahrnehmung: die Zeit ist nicht mehr gegen mich.“ Später lesen wir „,Heute gab es kein einziges Mal einen Raum‘ (als er sich dessen bewußt wird, gibt es ihn als Wärme)“, bevor der Autor erleichtert bemerkt: „Endlich tut sich wieder Raum auf.“ Es ist, notiert er, als „gäbe es keine andern beschreibbaren, objektivierbaren Erfahrungen als die mit dem Raum“.
Die Erfahrungen entstammen Handkes Reise durch Slowenien im Jahr 1978. Dabei sind es aber nicht nur Gedanken zu Reisebegegnungen, Landschaften und Stillleben, gemischt mit solchen zu entstehenden Werken. Vielmehr ist das Notizbuch Resultat von Tagen „mit lauter angefangenen Gedanken“, wie es heißt. Handke sieht, schaut, beobachtet, übersetzt dann durch Schreiben und Zeichnen. Sogar durch den Körper wird erfasst, wenn die Aufzeichnungen um Spiel und Sexualität kreisen. Man gewinnt den Eindruck, der Autor erprobt den Klang von Wendungen ebenso wie die Trefflichkeit von Begriffen mit dem Ziel, zu den wirklichen Dingen der Welt vorzustoßen. Eine Spur, die Welt festzuhalten, findet er in einem Changieren des Gesehenen zwischen Raum und Körper, wobei die Formen des Wahrgenommenen sowie die des (Be-)Schreibens als eine Art Träger fungieren. So wird Handkes Notizbuch für ihn zum Kaleidoskop – einem Instrument zum Sehen schöner Formen: kalós, eidos, skopéin.
1978 ist für den heutigen Nobelpreisträger ein Jahr der Schreibkrise und der literarischen Neuorientierung. So zeugt das Buch auch von dem, was Handke liest: „Das häufige Auf die Probe Stellen in der Odyssee“, notiert er, und entdeckt bei Homer auch Formen: „Wie in der Odyssee oft A dem B erzählt, was B erlebt, gemacht, erlitten hat (F.-E.!).“ Ein Form-Element, kurz F.-E., mit Ausrufezeichen! Handkes Neuorientierung mündet im Jahr darauf in die Erzählung Langsame Heimkehr (1979). So finden sich auch der Name Sorger oder das Kürzel „S.“ in den Notizen, welche auf den Protagonisten der Heimkehr-Erzählung verweisen. Und auf diese Weise zeugen die Aufzeichnungen auch von dem, was entsteht: ein anderes Erzählen.
Der Ausgabe sind rund 40 Faksimiles aus dem Notizbuch angefügt. Aufgezeichnet wurde nämlich nicht nur schriftlich, sondern auch zeichnerisch. Die Abdrucke der Originale zeigen Handkes Zeichnungen: er schafft im wörtlichen Sinne die Form der Dinge nach – von Landschaften über Kaffeetassen und Christusbilder bis hin zu Bügelfalten. „Manchmal konnte S. nur zeichnend (nachz.) etwas wahrnehmen.“ In diesem Zeitraum vollzieht Handkes mittels seiner Notierpraxis, wie die Herausgeber:innen feststellen, eine „ästhetische Aneignung per Formfindung“.
Dieses Nebeneinander von Gedanken zum Werk und solchen zum Leben, zur Reise selbst wie zu Lektüren macht das Lesen dieses Wahrnehmungsprotokolls interessant: weil wir dabei zu sein scheinen, wie jemand beginnt, neu zu sehen und zu beschreiben. „Ich habe keine Denkmethoden, (aber) ich kann denken.“ Wie seine spätere Figur S. ist Handke „auf der Suche nach der Wirklichkeit“. Als Leserinnen und Leser dieser Aufzeichnungen meinen wir zu erfahren, wie Handke diese Suche beendet. Denn während es zu Beginn noch heißt: „Anmaßendes Aufgerichtet-Gehen, gleich am frühen Morgen“, notiert er am Ende des Aufzeichnungszeitraum: „sich und die Welt aufrichtend […]. Es gelang ihm, sein Denken zu denken, und er wurde wieder wirklich.“
Was das Buch also leistet, ist die Bedeutung der täglichen Notier- und Aufzeichnungspraxis für den Wendepunkt in Handkes literarischem Schaffen und als Findungs- und Erprobungsraum für ein neues Erzählen sichtbar zu machen.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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