Ein Göttinger Staatswissenschaftler zeichnet ein nordamerikanisches Sittengemälde
Gottfried Achenwall schildert in „Amerika 1766“ die politischen Verhältnisse am Vorabend der amerikanischen Revolution
Von Martin Meier
Mit Amerika 1766. Anmerkungen über Nordamerika, und über dasige Grosbritannische Colonien eröffnet der Wallstein Verlag seine neue Reihe Deutsch-amerikanische Bibliothek. Das schmale Bändchen bietet einen Essay des hervorragenden Göttinger Historikers Gottfried Achenwall, der gleichsam als „einer der Begründer der modernen Politikwissenschaften“ gelten darf, und der sich auf dem Gebiet der Staatswissenschaften im 18. Jahrhundert große Verdienste erwarb. Seine Darstellung beruht auf persönlichen Gesprächen mit Benjamin Franklin, der im Juli 1766 Göttingen besuchte, um während eines einwöchigen Aufenthaltes Stadt und Universität näher kennenzulernen.
Franklins Schilderungen der Natur, der Verfassung und des Lebens in den amerikanischen Kolonien der britischen Krone gab Achenwall zunächst in einer Reihe kurzer Beiträge wieder, die im Hannoverischen Magazin erschienen. Der reich ausgestattete Band ist durch die Herausgeber mit einer lesenswerten Einleitung versehen, die die Umstände
der Reise des berühmten Naturwissenschaftlers, Erfinders des Blitzableiters und Mitgründervaters der Vereinigten Staaten beleuchtet. Auch findet sich eine eingehende Darstellung des wissenschaftlichen Klimas an der Universität Göttingen, hier insbesondere für den Bereich der Staatswissenschaften.
Die Herausgeber verdeutlichen das lebhafte zeitgenössische Interesse an den amerikanischen Verhältnissen. Besonderes Augenmerk liegt zudem auf der Biographie Gottfried Achenwalls. Der über hervorragende Kenntnisse in zahlreichen verschiedenen Wissenschaftsbereichen wie dem Völkerrecht und Verfassungsrecht verfügende Achenwall war schon vor seinem Treffen mit Franklin durch eine Reihe umfassender staatswissenschaftlicher Schriften hervorgetreten. In der kurzen Zeit, in der sich Franklin in Göttingen aufhielt, sei Achenwall kaum von dessen Seite gewichen, so die Herausgeber.
Nach dem Erscheinen der Artikel erhielt Franklin Kenntnis der Texte und befand sie, abgesehen von zwei Änderungswünschen, für gut. Es handelt sich also um autorisierte Texte, weshalb die Herausgeber sich dazu entschlossen, nicht die erste Buchausgabe für ihre Edition zu wählen, sondern die Zeitschriftenartikel.
In ihrer Einleitung lenken Detering und Kunze das Augenmerk auf einige interessante Aussagen, etwa auf Achenwalls/Franklins Ansichten zur Entstehung der amerikanischen Verfassung, die sowohl europäische als auch amerikanische Vorbilder besessen habe, etwa in der Verfassung der Irokesen. Die Herausgeber verschweigen nicht die ambivalenten Tendenzen in der Darstellung wie auch im Leben Franklins, der, einst selbst Sklavenhalter, später entschiedener Gegner der Sklaverei gewesen sei. Einerseits spreche der Text von „Wilden“, wenn die indigenen Bewohner Nordamerikas gemeint seien, andererseits maßen Franklin und Achenwall denselben großen Einfluss auf das amerikanische Leben bei. Sich der Sklaverei zuwendend habe Achenwall die beschämenden Lebensbedingungen verharmlosend dargestellt. Hier, wie auch im Falle der Darstellung zur „Stempelakte“, habe für den Göttinger Professor das Problem bestanden, zwischen Realität einerseits und Loyalität zur britischen Krone andererseits zu urteilen, war doch der britische König gleichsam hannoverischer Kurfürst.
Ein bemerkenswertes Missverständnis des Textes schleicht sich jedoch ein, wenn die Herausgeber die Auffassung äußern, „gleich auf der ersten Seite geht er mit der Bemerkung, dass in Europa durch die ‚Ausrottung der Wälder und den Anbau des Landes das dasige Clima merklich milder geworden‘ sei auf die Beziehung zwischen Forstwirtschaft und Klima ein“. Im Text hingegen findet sich das genaue Gegenteil, wenn Achenwall schreibt:
Die östliche Küste von Nordamerika, auf welcher die großbritannischen Colonien angelegt sind, ist durchgängig kälter als die Länder und dergleichen Himmelstriche in Europa sind, man hat auch nicht bemerkt, daß durch die Ausrottung der Wälder und den Anbau des Landes das dasige Clima merklich milder geworden.
Die Äußerung, man „habe nicht bemerkt“, bedeutet das Gegenteil von dem, was die Herausgeber aus dem Text herauslesen, ist es doch zu lesen im Sinne: Es konnte nicht festgestellt werden. Autoren, die sich mit frühneuzeitlichen Texten beschäftigen, muss dieser Umstand zweifelsohne deutlich sein.
Abgesehen von dieser Kleinigkeit bietet die lesenswerte Einführung keinen Anlass zu vertiefender Kritik. Es versteht sich von selbst, dass Leser anderen bemerkenswerten Punkten der Darstellung ihr Augenmerk widmen, daher einige Bemerkungen zum Text selbst:
Achenwall zeigt die prekäre Situation europäischer Einwanderer, die der von Sklaven ähnle. Entweder handle es sich um Personen, deren Eltern zu arm gewesen seien, um die Überfahrt zu bezahlen und die aus diesem Grunde ihre Kinder in die Sklaverei verkauften oder um straffällig gewordene Personen, die es in die Kolonien geschafft und dort weiter als Sklaven auf einen bestimmten Zeitraum verkauft worden seien. In den meisten Fällen würden diese sich aber nicht bewähren und aufgrund erneuter Verbrechen gehängt werden.
Sich der Verfassung der einzelnen Kolonien widmend, unterscheidet Achenwall drei verschiedene Arten von Kolonien. Zum Ersten jene, in denen die „königliche Regierungsart“ herrsche, also die den britischen Reichsstatuten vollständig unterstellt seien, zum Zweiten jene mit „eigentümliche(r)“ Regierungsart, d.h. Kolonien, die sich im Besitz einer Familie befänden (Pennsylvania und Maryland). Die dritte Regierungsart sei der demokratischen sehr nahe, konstatiert Achenwall, und betreffe vor allem die drei Kolonien Connecticut, Rhode Island und Massachusetts Bay. Besonderes Augenmerk widmet Achenwall der pennsylvanischen Verfassung. Die religiösen und kirchlichen Verhältnisse berührend, merkt er an, dass es auch katholische Gemeinden vor allem in Maryland gebe, ebenso Juden in Pennsylvania und New York.
Den Ausführungen zum Staatswesen und den Religionsgemeinschaften folgen kurze Bemerkungen zur Arbeit der Universität Cambridge sowie zum Ackerbau, zur Viehzucht und zur Fischerei. Obgleich im Buch sehr Vieles kommentiert wird, bleibt die Bemerkung „man nutzt in Nordamerika auch die Haut des Cabeliaufisches und macht eine sehr gute Hausblase“ unkommentiert – eine Fußnote wäre sicherlich angebracht gewesen.
Die Natur schildert Achenwall erstaunlich aufgeklärt, wenn er etwa über Raubtiere wie Bären und Wölfe schreibt, die sich friedlich verhielten, wenn man sie in Ruhe lasse. Oft würden Tiere nur um des Felles wegen getötet, das Fleisch lasse man einfach verrotten.
Durch „Vielkinderey“ wachse die Einwohnerzahl so schnell, dass, obgleich neue Manufakturen entstünden, dennoch das Land als hervorragender Absatzmarkt für englische Produkte fungiere. Auch werde mit den indigenen Völkern viel Handel getrieben, so etwa am Ontariosee. Viele Produkte dürften die Kolonien jedoch nicht ausführen – Eisen, Hanf, Tabak, Ingwer oder Tee etwa blieben Großbritannien vorbehalten.
Die vom englischen Parlament 1765 beschlossene Stempelakte erregte den besonderen Unmut der Kolonien. Ihre Vertreter argumentierten dahin, dass die Kolonisten englisches Bürgerrecht genössen, aber über keine Abgeordneten im Unterhaus verfügten. Keine englische Gemeinde dürfe jedoch gegen ihren Willen besteuert werden.
Die Herausgeber geben dem Band eine unabhängigkeitskritische Darstellung John Wesleys bei. Dieser hält in seiner Argumentation den Kolonien entgegen, sie hätten noch nie dem englischen Parlament das Gesetzgebungsrecht abgesprochen. Verhielte es sich so, wie sie im Falle der Stempelakte argumentierten, sei eine Rechtsetzung für die Kolonien grundsätzlich nicht möglich. Insgesamt lohnt sich Wesleys Darstellung, da sie das Verständnis der Vorgänge fördert. Der Anhang bietet zudem einen Brief Christian von Gatzerts, worin dieser Achenwall mitteilt, Franklin habe die Zeitungstexte gelesen und sie für gelungen befunden.
Der reich ausgestattete, gründlich recherchierte Band legt die Messlatte für künftige Titel der Reihe erfreulich hoch.
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