Eine neue Perspektive auf ein großes Thema
Dorothea Weltecke stellt in „Minderheiten und Mehrheiten“ das religiöse Zusammenleben im mittelalterlichen Afro-Eurasien vor
Von Jürgen Römer
Der schmale Band Minderheiten und Mehrheiten. Erkundungen religiöser Komplexität im mittelalterlichen Afro-Eurasien enthält den Jahresvortrag 2019 der von dem bekannten Historiker Michael Borgolte betreuten Reihe Das mittelalterliche Jahrtausend, die die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften veranstaltet. Die Autorin Dorothea Weltecke, seinerzeit noch auf einer Professur an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt tätig, unterdessen an die Humboldt-Universität Berlin gewechselt, ist durch ihre bisherigen Forschungsarbeiten, die einen Schwerpunkt unter anderen in der Geschichte des orientalischen Christentums haben, für das vorzustellende Thema als Kennerin bestens ausgewiesen. Sie hat eine denkbar große Perspektive gewählt, indem sie Quellen aus dem mittelalterlichen Jahrtausend vom Atlantik bis zum Indik und vom Nordmeer bis zur Sahara zusammenführt und fruchtbar macht. Dazu kommt eine sehr umfangreiche und in den Fußnoten dokumentierte Literatursammlung, die sie mit den Quellen stets lesenswert zu verbinden weiß.
Es geht um nichts Geringeres als darum, alte und – man muss nach der Lektüre sagen: leider – allzu lieb gewonnene Gewohnheiten im Blick auf die Wahrnehmungen von Vorstellungen von Religion mit der in zeitgenössischen Texten sowie Gegenständen und moderner Forschung erkennbaren Realität zu konfrontieren. Dabei zeigt sich sehr bald, dass die Rede davon, die monotheistischen Religionen seien eine der wesentlichen „Ursachen von Gewalt und Intoleranz“, viel zu kurz greift und Stereotype transportiert, die in ihrer Einseitigkeit nicht nur häufig fehlerhaft, sondern zudem auch von diskursiven Konjunkturen abhängig sind. Galt ‚der Islam‘ – den es ebenso wenig wie ‚das Christentum‘ je gab noch gibt – der Aufklärung noch als Hort der Toleranz und Weisheit, so wird diese Religion in holzschnittartiger Vergröberung seit einigen Jahrzehnten geradezu als das Gegenteil, als Quelle von Hass und Gewalt, beschrieben und wahrgenommen, damit ‚das Christentum‘ in dieser negativen Rolle ablösend.
Dies blendet nicht allein die konfessionelle und theologische Vielfalt der monotheistischen Religionen komplett aus, sondern auch das Faktum, dass gerade im seinerseits als intolerant und gewalttätig verschrienen Mittelalter an vielen Orten (Nord-)Afrikas, Asiens und Europas Menschen der unterschiedlichen Religionszugehörigkeiten zusammenlebten und dabei einen Modus Vivendi nicht nur finden mussten, sondern auch fanden. Was dies für die Sozialgeschichte bedeutet, ist das Kernthema des Buches. Es geht also nicht um klassische Religions- oder gar Theologiegeschichte, sondern aus der Sicht der Historikerin um das Miteinander von Menschen verschiedenen Glaubens in verschiedenen politischen und sozialen Konstellationen. Dies ist der Wissenschaft seit Jahrzehnten bekannt und Gegenstand einer Vielzahl von Forschungsbeiträgen, die Weltecke systematisierend vorstellt. Dem möglichen Vorwurf, hier würden nachgewiesene religiöse Gewalttaten und Gräuel verharmlosend künstlich harmonisiert, entgegnet sie mit dem Hinweis darauf, dass es neben diesen stets und gleichsam allerorten auch ein friedliches, wenn auch nicht nach modernen Vorstellungen ‚gleichberechtigtes‘ Zusammenleben von Mehrheiten und Minderheiten gab, das ebenso nachweisbar ist und die Lebensrealität prägte.
In einem ersten Schritt befasst sich die Autorin mit dem Begriff vom „Mittelalter“, der seit langem in der Debatte steht. Sie fordert mit eindrücklichen Beispielen eine stärkere Repräsentanz religiöser Diversität in Darstellungen dieser Epoche ein, der man nur so gerecht werden könne. Dabei wendet sie sich auch gegen politisch motivierte Versuche, vermeintliche Einheitlichkeit in den Vordergrund zu stellen. Weltecke plädiert dafür, an dem Begriff des „Mittelalters“ festzuhalten, ihn allerdings dafür in einer geografischen Erweiterung auf den afro-eurasischen Raum zu nutzen, wo er durchaus sinnvoll sei. An einem hochmittelalterlichen Bronzeleuchterpaar aus Hildesheim kann sie diese Sichtweise exemplarisch untermauern, so wie sie stets nicht nur die Literatur, sondern auch die Text- und Sachquellen zum Sprechen bringt.
Nachdem das Umfeld abgesteckt ist, wendet sie sich im Kapitel über „gegenwärtige Forschungsfragen zur religiösen Komplexität des Mittelalters“ dem Kern ihrer Darstellung zu. Sie gliedert ihn in drei Punkte: Im ersten geht es um die Vielfalt von rechtlichen Kulturen, die religiöse Zugehörigkeit als „Kategorie rechtlicher Ungleichheit“ fassen. Sie zeigt, dass es zwar in aller Regel nicht zu einem gleichberechtigten Nebeneinander der verschiedenen Religionen unter christlicher oder islamischer – sehr selten auch jüdischer – Oberhoheit kam, dass aber oftmals stabile Regelungssysteme gefunden wurden, die das Zusammenleben theoretisch, aber auch praktisch gestalteten. Religiöse Minderheiten genossen zwar selten die gleichen Rechte wie die Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft, hatten aber dennoch einen rechtlichen Status, der sie in konfliktarmen Zeiten zu sichern vermochte. Die Beispiele reichen von Bagdad bis Spanien, aber neben diesen bekannten Schauplätzen religiöser Vielfalt fließen auch Beispiele etwa aus österreichischen Kleinstädten ein, was die Bedeutung für den Alltag spürbar werden lässt.
Im zweiten Punkt betrachtet Weltecke, wie die Koexistenz dominierender und rechtlich schlechter gestellter Gruppen, also von Mehrheit und Minderheit, im täglichen Leben gestaltet wurde. Das Zusammenleben von Juden und Christen etwa in deutschsprachigen Bischofsstädten, mit dem sich Weltecke am Beispiel von Konstanz bereits ausgiebig befasst hat, war zwar durch Kleidungsvorschriften beeinflusst und reglementiert, aber die gängige Sichtweise, dies seien einzig und allein Instrumente einer alltäglichen Diskriminierung, greift offenbar zu kurz, wie der Umgang der Juden mit diesen Reglements zeigt. Hier taucht die Autorin tief in das Alltagsleben unter anderem von Fastnacht und Purim ein und macht die angesprochenen Fragen anschaulich. Diese Feste wurden im späten Mittelalter nicht etwa strikt getrennt gefeiert, sondern man tanzte und lachte miteinander, etwa bei der „Vastnacht der Juden“, wie in einer Quelle das Purimfest zeitgenössisch bezeichnet wird.
Regelrecht verblüffend ist es zu sehen, dass die Frage nach der religiösen und erst recht der konfessionellen Zugehörigkeit von Menschen bei Weitem nicht immer so klar und eindeutig war, wie es gängige Bilder suggerieren und teils auch mittelalterliche Normen forderten. Da erscheinen normannische Eheleute, die im 12. Jahrhundert ein ganzes Gebäude für die syrisch-orthodoxe Kirche in Antiochia, dem heutigen Antakya, finanzierten. Muslime besuchten christliche Kirchen, und an einigen Stellen, die der Verehrung bestimmter Heiliger gewidmet waren, konnten sich Pilger aus unterschiedlichen Religionen treffen.
Nach diesem dritten Schritt wirft Weltecke noch einen Blick auf die materielle Kultur und die Kunst, wo die vermeintlich so starren religiösen Grenzen gerne und oft ignoriert und überschritten wurden. Als Beispiele führt sie unter anderen einen jüdischen Friedhof in Armenien und eine jüdische Prachthandschrift aus Ulm aus dem 15. Jahrhundert an. Hier lassen sich vielfältige Kontakte und Kooperationen über religiöse Grenzen hinweg mit Händen greifen.
Unter der passenden Überschrift „getrennte Religionen, gemeinsame Kulturen“ fasst Weltecke ihre Ergebnisse knapp zusammen. Die moderne Denkweise in „binären Gegensatzpaaren“ wie Mann/Frau, Mehrheit/Minderheit werde der Dynamik, die das Verhältnis von Religionen und deren Angehörigen zueinander im gesamten Mittelalter vom Atlantik bis zum Indus kennzeichnete und bestimmte, nicht gerecht. Historische Forschung gerate hier auch und gerade mit ihren Begrifflichkeiten, mit ihrer Sprache immer wieder an Grenzen. Die Beziehungen seien stets in dialektischer Sichtweise zu betrachten und zu behandeln: Es gab nicht bloß Phasen friedlichen Zusammenlebens, sondern auch Ausbrüche enormer Gewalt. „Spirituelle, kulturelle oder wissenschaftliche Elemente“ der jeweils anderen Glaubensgemeinschaften wurden nicht übernommen, weil man diese mochte oder ehrte, sondern weil man diese Errungenschaften für das eigene Leben nutzen wollte.
Weltecke plädiert dafür, sich von der Vorstellung vom „christlichen“ Mittelalter zu verabschieden, weil die Realität weitaus komplexer war – in Konstanz etwa „lateinisch, hebräisch, deutsch, christlich und jüdisch“, in Mosul „arabisch, hebräisch, aramäisch und armenisch, islamisch, jüdisch und christlich“. Mit diesen Worten wird deutlich, dass Welteckes Beitrag durchaus auch aktuelle Bezüge aufweist zu den allzu oft als religiös verunglimpften bis inszenierten, in Wahrheit aber häufig sozial und politisch motivierten Diskriminierungen und Gewalttaten unserer Gegenwart.
Der Autorin gelingt in ihrem mit einigen Bildern illustrierten Band eine Vogelschau über ihr immenses Forschungsbiet und den großen Zeitraum. Dabei kommen auch anschauliche Details zu ihrem Recht. Zu kritisieren ist wenig: Man hätte der Publikation einer renommierten Forscherin bei einem angesehenen Verlag ein gewissenhafteres Korrektorat gewünscht. Erkauft ist die Kürze der Darstellung durch eine gewisse Dichte des Textes. Zweifellos ist dies kein Buch, das für Einsteiger in die Welt des Mittelalters gedacht ist – gewisse Vorkenntnisse sind für die komplette Durchdringung unabdingbar. Wer jedoch nicht zu den wenigen Expertinnen und Experten für diese Epoche und diese Thematik gehört, wird sehr viel Neues und bisher Unbekanntes erfahren und sein Bild über Religionen im Mittelalter in ihrem Neben- und Miteinander umfänglich verändern können. Dazu lädt das Buch auf einer Entdeckungsreise durch Raum und Zeit ein.
Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg
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