Die Frage nach dem Warum

„Lebensfragen“ von Denis G. Humbert: Die Exhumierung des philosophischen Dialogs: Was überzeugt, ist die Idee

Von Sascha MangliersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Mangliers

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Textsorte des Dialogs hat in der Philosophiegeschichte eine lange Tradition. So hat etwa Platon die Gespräche seines Lehrers Sokrates mit dessen Schülern in abwechselnder wörtlicher Rede dokumentiert, während David Hume in seinen Dialogen über die natürliche Religion (1779) drei Figuren als Repräsentanten konträrer Positionen zu Wort kommen ließ. Mittlerweile sind philosophische Publikationen nur noch ausgesprochen selten in Dialogform dargestellt. Eine Wiedergeburt des Dialogs kann durchaus wünschenswert sein, wenn er denn mit den Lesegewohnheiten der heutigen Zeit verträglich ist. Wenn nicht, bleibt der Versuch der Renaissance in der Exhumierung stecken. So leider auch in Denis G. Humberts Buch Lebensfragen. Philosophische Gespräche. Zunächst zur Idee:

Humbert widmet sein Buch dem Ziel, seine Leser zur Beschäftigung mit zentralen philosophischen Lebensfragen anzuregen. Dabei stellt er früh klar, dass der Leser keine eindeutigen Antworten erwarten darf, da er selbst die Sicht vertritt, dass „[…] nicht die Antworten, sondern die intellektuell herausfordernde und die Seele formende Auseinandersetzung mit den bedeutenden philosophischen Lebensfragen und die bessere Selbsterkenntnis das Ziel sein müssen.“ Diese Auseinandersetzung versucht Humbert über die Dialoge herbeizuführen, die sein fiktiver, zeitreisender Protagonist Pierre Cascoigne mit Persönlichkeiten verschiedener Epochen führt. Hierbei überzeugt nicht nur die Idee, sondern auch die Themen, über die Humbert seine Figuren diskutieren lässt: Von Jahrtausende alten Themen, wie der Frage nach dem Nutzen der Philosophie über personale Identität (Wer bin ich?), bis hin zu eher modernen Themen, wie etwa der Tierethik.

Ein weiteres der 9 Kapitel, die jeweils zwischen 6 und 36 Seiten umfassen, behandelt die Frage nach dem richtigen Leben. Dort besucht Pierre Cascoigne den Stoiker Seneca im Jahr 64 n. Chr. Sie diskutieren u. a. Fragen wie „Gibt es objektive Richtlinien des gutes Handelns?“ oder „Was bedeutet Zufriedenheit?“. All diese Fragen sind solche, die sowohl in der Philosophiegeschichte als auch im aktuellen Diskurs von großer Bedeutung waren und sind. Das lässt sich Humbert klarerweise zugutehalten. Die Schwierigkeiten mit diesem Buch liegen auf der Umsetzungsebene und scheinen eng mit dessen Selbstverständnis zusammenzuhängen. Den Ausführungen David Humes folgend, eine „leichte Philosophie“ werde aufgrund ihrer Lebensnähe als nützlicher empfunden, gibt Humbert die Zielsetzung vor, den philosophischen Themen durch die Dialogform Zugänglichkeit und Lebendigkeit zu verleihen. Nimmt man die Vorgabe des Klappentextes hinzu, mit seinem Werk „eine neue geistige Orientierung“ liefern zu können, ergibt sich ein anspruchsvolles Gesamtvorhaben. Ein Spagat zwischen philosophischer Tiefe und literarischer Zugänglichkeit wäre, wenn er denn gelänge, ein Kunststück. Humberts Buch jedoch hat für einen solchen Spagat auf beiden Seiten zu kurze Beine.

Humbert ist kein Philosoph und beansprucht auch gar nicht, einer zu sein. Doch, ohne dem Autor eine sorgfältige Recherche absprechen zu wollen, offenbaren sich dadurch Schwächen. Zum einen erwecken die Bezüge zu philosophischen Theorien an einigen Stellen den Eindruck von intellektueller Farbsprenkelei. So lässt Humbert seinen Protagonisten Cascoigne zur Frage nach der Selbstreferenzialität richtigen Handelns auf Albert Schweitzer Bezug nehmen. Er sagt:

Verhält es sich sodann nicht so, dass das Nachdenken über die Frage nach dem richtigen Leben eine Hebung und Belebung der ethischen Gesinnung eines jeden von uns bewirkt? Diese Frage beziehungsweise diese Feststellung stammt von einem herausragenden Arzt und Philosophen Albert Schweitzer, den ihr nicht kennen könnt.

Doch anstatt solche Anstöße anzunehmen und thematisch weiterzuführen, werden sie allzu oft ins Leere laufen gelassen. So konstatiert Seneca bereits in seinem nächsten Wortbeitrag:

„[…] Geschätzter Cascoigne, bevor wir uns weiter in die Diskussionen vertiefen, sollten wir zunächst noch definieren, was denn ‚richtig‘ heißt.“

So entsteht ein inhaltliches Stop-and-Go, das ebenso durch abrupte Themenwechsel „Lasst uns nun zu einem anderen Thema kommen, […]“, in der Tat nicht mehr als einen punktuellen Überblick über die Positionen bezüglich der jeweiligen Streitfragen zulässt. Was auch einen kritischen Blick rechtfertigt, ist die Auswahl der Quellen, auf die Humbert seine Figuren Bezug nehmen lässt. Es versteht sich von selbst, dass in einem Dialog, an dem Seneca selbst teilnimmt, seine Texte und die seiner antiken Zeitgenossen im Fokus stehen. Allerdings wäre es ein willkommener Kontrast zu den Klassikern gewesen, auch die eine oder andere moderne Position miteinzubeziehen. Gerade ein gegenwärtig so viel behandeltes Thema, wie das des richtigen Lebens, schreit förmlich danach. Einschlägig wären beispielsweise die im englischen Sprachraum entwickelten Well-being-Theorien (vgl. Fletcher. The Philosophy of Well-being: An Introduction, 2016) oder auch Theorien zur Gewichtung von moralischen Werten und subjektiven Präferenzen (vgl. Wolf. Variety of Values, 2015). Eine solche Mischung traditioneller und neuerer Perspektiven hätte den Texten – gerade im Vergleich zueinander – sicher gutgetan. Auf die Verwendung einschlägiger Online-Enzyklopädien mit gepuzzeltem Globus-Symbol als Quelle muss nicht weiter eingegangen werden; spricht sie doch für sich.

Mit Blick auf die literarische Darstellung grenzt sich Humbert von den Dialogen Platons ab, indem er die klassische Rollenverteilung aufhebt und seinen Dialogen ein modernes Gewandt verleiht. Dabei löst er sich von der Mäeutik Sokrates‘, der seinen Gesprächspartnern durch gezielte Fragen hebammenartig zur Erkenntnis verhalf. Vielmehr begegnen sich Cascoigne und seine Gesprächspartner weitestgehend auf Augenhöhe und tauschen sich – mal argumentierend, mal plaudernd – über die philosophischen Kernfragen aus; ein guter Ansatz! Doch der Weg zum Erkenntnisgewinn führt nun mal über die Sprache. Und hierbei bildet der sprachliche Stil den wohl zentralsten Kritikpunkt an diesem Buch. Zwar versperrt der Stil den Zugang zum Inhalt nicht – das wäre zu viel gesagt – aber er erschwert ihn maßgeblich.

Ein Beispiel:

Seneca: „Ich stimme Euch zu. Nun zurück zu Eurer Frage: Wann ist eine Handlung, eine Lebensführung ‚richtig‘? Um diese anspruchsvolle Frage zu beantworten, müssen wir zumindest eine Idee, eine konkrete Vorstellung des Richtigen haben.“

Cascoigne: „Ja, das sehe ich genauso. Bevor wir aber über die Vorstellung des Richtigen sprechen, sollten wir uns zuerst fragen: Warum sollen wir denn überhaupt, ja, müssen wir richtig leben? Was soll es in uns bewirken? Was ist das Ziel richtigen Lebens?“

Seneca: „Fragen über Fragen. Lasst uns versuchen, jede einzelne von ihnen zu beantworten.“

Cascoigne: „Euer Vorschlag ist kein leichtes Unterfangen – was aber Philosophie sowieso nie ist.“

Seneca: „Wie wahr. Beginnen wir mit dem großen Aristoteles. Oder wollen wir uns zu Beginn doch eher dem Werk des ehemals griechischen Sklaven Epiktet widmen, seinem Handbüchlein der Moral?“

Passagen wie diese lassen sich in nahezu jedem Kapitel finden und werfen beim Leser vor allem eine Frage auf; die nach dem warum: Warum soll ich das alles lesen? Sicher, – solche Affirmationen und Suggestivfragen kommen auch zuhauf in den antiken – insbesondere in den platonischen – Dialogen vor („Fürwahr, mein Sokrates“), jedoch scheinen sie eben dort aufgrund der Gesprächshierarchie auch funktional. Den Dialogen in Lebensfragen hätte ein etwas zielgerichteterer und damit zugänglicherer Schreibstil gut zu Gesicht gestanden. Einen ähnlichen Positiveffekt hätte es wohl gehabt, wenn Humbert seiner Hauptfigur Cascoigne ein wenig mehr Profil auf seinen fiktiven Leib gezeichnet hätte. Er verliert sich mit seinen Gesprächspartnern allzu oft ins konfrontationslose Parlieren, sodass dem Leser der Reiz des Sich-positionieren-wollens vorenthalten wird. Es liegt nun mal in der Sache, dass man eher dann zum Philosophieren neigt, wenn man gedanklich an etwas Anstoß nimmt beziehungsweise zum Widerspruch angeregt wird. Eben das kommt zu selten vor.

Alles in allem präsentiert Denis G. Humbert mit seinen Lebensfragen ein Buch, das trotz eines überschaubaren philosophischen Gehalts zum Nachdenken über die Kernfragen der Philosophie anregen kann. Sein Gedanke, den Dialog als philosophische Textsorte wiederzubeleben, ist als ein Verdienst zu werten, auch wenn dessen Umsetzung eher unglücklich geraten ist.

Titelbild

Denis G. Humbert: Lebensfragen. philosophische Gespräche.
Schwabe Verlag, Basel 2023.
234 Seiten , 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783796547430

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