Bilder der Nacht und des Meeres
Gedichte von Ioulita Iliopoulou erstmals auf Deutsch
Von Herbert Fuchs
Ioulita Iliopoulou ist in Griechenland eine vielbeachtete Dichterin. 1965 geboren, studierte sie an der Athener Universität byzantinische und neuere griechische Literatur und besuchte die Schauspielschule des Athener Konservatoriums. 1987 veröffentlichte sie ihr erstes Buch, Schöne Sonnenwende, Marko. Der vorliegende Gedichtband Das Mosaik der Nacht ist bereits ihre achte Publikation, darunter auch Märchen und Libretti zu musikalischen Kompositionen von Giorgos Kouroupos. Darüber hinaus ist sie an der Entwicklung mehrerer Literatur- und Musikprojekte beteiligt und hält Lesungen ihrer Dichtungen in Theatern. 2005 wurde ihr der Griechische Staatspreis für Literatur verliehen. Der Razamba-Verlag legt nun die Gedichte aus Das Mosaik der Nacht zweisprachig vor, übersetzt von Giorgis Fotopoulos.
Der Titel des Gesamtbands ist auch der Titel eines Gedichts, das am Ende des Buches abgedruckt ist. Der Text wird von Wörtern und Sprachbildern bestimmt, die für den Band insgesamt charakteristisch sind: von Wörtern wie „dunkel“, „trüb“, „blau“, „Wind“, „Träume“, „Kinder“ und „Morgen“ und von Bildern wie „Trauerschätze“, „des Meeres ewig sommerlicher Sturm“, „unter den steilen Abgründen des Schlafes“, „im Wohlklang der Sterne“ oder „im großen Mosaik der Nacht“. Über vielen Gedichten, auch über diesem, liegt eine melancholische Stimmung: Erinnerungen eines Ich an die Kindheit werden thematisiert, Traum und Wirklichkeit gegenübergestellt, der Traum von Glück, auch Liebesglück, und die Wirklichkeit, die immer wieder von Abschied und Verzicht geprägt ist. Vor allem aber wird in vielen Texten des Bands vor den Augen des Lesers eine Landschaft aus Meer, Wind und Wellen entfaltet, eine Landschaft, die ihre Bewohner prägt, beglückt, auch ungestillte Sehnsüchte weckt, die, die sie verlassen haben, immer wieder an unbeschwerte Kindheitsjahre erinnert.
So werden beispielsweise in dem Gedicht Mosaik der Nacht Schlafbilder, „entfernte Bilder, hörbar kaum“, aufgezählt:
Einige Kinder beim Seilspringen
Andere schwerelos in einer Hängematte
Und wieder andere, noch bevor sie geboren, geloben
– Nach einer Mutter Umarmung sich sehnend –
Silberne, goldene, wächserne Gelöbnisse zu halten
Die Flämmchen um Flämmchen erleuchten
Im großen Mosaik der Nacht
Allmählich schwerer atmend
Ein wenig, ganz klein wenig Leben.
Aus den „Gelöbnissen“ der Kinder, wenn sie sich denn als Erwachsene daran erinnern, kann Kraft für das ganze Leben – „Ein wenig, ganz klein wenig Leben“, diese Einschränkung macht das Gedicht – geschöpft werden.
Wie wichtig für das Ich neben den Erinnerungen an die Kindheit die Landschaft am Meer ist, wird in Zeilen der zweiten und dritten Strophe deutlich:
Des Meeres ewig sommerlicher Sturm
Will entferntestes Blau
Auf Dächern, in Träumen absetzen
Damit Altes mehr Neues bringe
Die Liebe mehr Lieben
Und ängstlich öffnen sich die Blüten
Gefangen im kleinen Blumentopf
[…]
Unter den steilen Abgründen des Schlafes
Erleuchtet ein Himmel im Wohlklang der Sterne
Lieder, Lachen, Schreien, Summen, Küsse
[…]
Bricht der Morgen an?
Das Gedicht führt im Schlaf und Träumen einen Zustand des Glücks vor. In der Schlusszeile wird der Traum durch eine Frage jäh beendet: Sie kann als Vorwurf wie als kleine Hoffnung interpretiert werden und versetzt alles, was vorher gesagt wird, in einen träumerischen Schwebezustand.
Wie sehr das Meer das Leben der Menschen, die an der Küste leben, beeinflusst, kommt in vielen Verszeilen der Gedichte zum Ausdruck. Ein Text heißt Meer und zeigt, wie unzertrennlich der Mensch und die See miteinander verwoben sind:
Meeresgischt
Trägt der Wind
In kaum erreichte Höhen
In Häuser tief hinein
Wahnsinnswassersturz
Wirbelt Kiesel, Splitter, Muscheln, Sandkörner
Und Salz
Über weiße Böden fort
Über Bett, Decken hoch
In die tiefe Stille der Küsse
Das Gedicht spricht in den Schlusszeilen von der „Windstille“, die plötzlich einsetzt:
Schwarzweiß, gerahmt schaut in die Augen tief
Draußen vor dem Haus – jetzt und einst –
Dasselbe himmelblaue
Meer …
Dem weiten Wasser kommt etwas Mythisches zu. Den Menschen – und das geht seit Jahrtausenden so – schaut das Meer „tief in die Augen“, lässt sie nicht aus dem Blick, bannt sie regelrecht mit seinem Blick. Der Mensch der Küste kennt das nicht anders und hat sein Leben längst auf diese Nähe und ewige Bewegung des Meeres, die unruhige, wie die sanfte, ausgerichtet.
Ähnlich bedeutsam wie das Motiv des Meeres ist in den Texten das Motiv der Kindheit. In der Erinnerung an die Unbeschwertheit der frühen Jahre werden die Spuren der Zeit, die das Leben belasten, verdrängt, aber natürlich auch besonders deutlich. Mit der Kindheit hat das Ich Sehnsuchtsorte zurückgelassen, die es ein Leben lang an die verlorene Zeit und die Orte von einst binden. Die Erinnerungen, das ist ihre doppeldeutige Wirkung, geben Kraft und Stärke und machen gleichzeitig den unaufhaltsamen Ablauf des Lebens bewusst. Die melancholische Grundstimmung vieler Texte wird von dieser Ambivalenz geprägt. Das kurze Gedicht Kleines Mädchen zeigt das auf eindringliche Weise:
„Mein kleines Mädchen“
Worte, die, sobald sie erklingen
In eine Träne sich verwandeln
Letztlich
Kaum fähig mehr … unfähig
Die Spuren der Jahre
Zu tilgen.
In einer solchen „poetischen“ Umgebung, geprägt von Meeresrauschen und Träumen von frühem Glück, ist die Liebe wichtig im Leben der Menschen. Viele Textzeilen sprechen davon, z. B. die des folgenden Gedichts, das die Überschrift Lieben trägt:
Sogar in der einsamsten aller Nächte
Des Augusts
Sind meine Worte an dich
Und deine Worte an mich Melodien:
Unserer Liebe.
Ein anderes Gedicht spricht davon, wie schwebende Klaviermelodien die Nacht zu einer Liebesnacht verzaubern:
Und langsam, ganz langsam gleitet atmend sanft
In meinen Mund der Kuss von dir.
Liebe, Träume, Wellenschlag und Erinnerungen an die Kindheit schaffen eine weite, vielfarbige, nicht nur fröhliche, sondern auch melancholische Gefühlswelt, die den Leserinnen und Lesern eine Landschaft und ihre Menschen näherbringt, die sie so wahrscheinlich auf ihren Reisen nach Griechenland nicht oder nur unbewusst wahrgenommen haben.
Die Landschaft wird als Traum- und Sehnsuchtslandschaft in den Texten lebendig, religiös aufgeladen, kommt von Urzeiten her. Das Gedicht Göttin Blick I beginnt und endet mit den Zeilen:
Blick der Berge
Schwebend über sanftem Dunst
Leichte morgendliche Hügel über’m Meer
Das Land gegenüber, einsam die Inseln, weit entfernt die Gebirge
Alles
Als wär’s ein altes Malbuch in sanften Wasserfarben
[…]
Bedeutungslos
Die Hügel bleiben dort, stets schwebend
Und bilden mit Linien, Krümmungen und Senken
Dieser Landschaft, gleich der eines Kindes, diesen überwältigenden Blick…
Gerade weil diese Landschaft in ihrer Selbstverständlichkeit „bedeutungslos“ ist, kann sie eine mythische Wirkung entfalten: Die Zeit bleibt stehen, „unbewohnte Träume“ bemächtigen sich der Menschen, „die nach dem Lieben sich sehnten.“ Iliopoulou versteht es, Landschaft und Bewohner miteinander zu verbinden, das Zeitlose und das Unbeständige, die Nacht und den Morgen, die Sehnsucht nach Glück und die Erinnerung an die sorglose Kindheit, die Einsamkeit und die Liebe. Es sind Gedichte über eine Landschaft und über die Gefühlswelt der zu ihr gehörenden Menschen.
Es liegt nahe, dass ein Komponist sich durch die Bilder der Texte zu Musikstücken darüber „verführen“ lässt. Der Athener Komponist Giorgos Kouroupos hat Texte des Gedichtbands vertont. Rezitationen, zum Teil mit überlagerten Stimmen, Klaviermusik, die das Fließende und Melodiöse, aber auch Dramatische einiger Gedichte zum Ausdruck bringt und an Zeilen aus den Gedichten Klavier und Rhythmus erinnert, und Lieder, die den Text in Musik „übersetzen“: eine abwechslungsreiche und fesselnde Präsentation der Gedichte. Die Komposition fasziniert, auch wenn man die griechische Sprache nicht versteht.
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