Makrelen-Sushi für Herrn Inkognito
„Das Restaurant der verlorenen Rezepte“ bewirtet sogar Japans Ministerpräsidenten
Von Lisette Gebhardt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseHisashi Kashiwais Episodenroman ist ähnlich konstruiert wie Toshikazu Kawaguchis Bevor der Kaffee kalt wird (2022): Man sucht ein gerüchteweise bekanntes Gastlokal auf, um sich mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen – der Kunde oder die Kundin kann hier noch einmal einen Geschmack kosten, mit dem sich zentrale Erinnerungen aus Kindheit und Jugend verbinden.
Ein Gastro-Roman mit therapeutischem Flair
Dass man im gastronomischen Umfeld – vor allem durch die Interaktion mit dem Restaurantchef und seinen Gehilfen – die ideale Gesamtbetreuung für die unmittelbaren leiblichen Bedürfnisse und darüber hinaus einen nachhaltigen Rat für den weiteren Lebensweg erhält, ist eine in der japanischen Gegenwartskultur häufig überlieferte Idealvorstellung im Hinblick auf den Sozialraum Verköstigungseinrichtung, das heißt auf Imbiss-Buden (yatai), Kneipen (izakaya), Gasthöfe (ryokan), Restaurants und Bars. Präsentiert wurde dieses Szenario etwa auch in der beliebten, auf einem Manga von Yarô Abe basierenden TV-Produktion Shinya Shokudô (2009-2019, Midnight Diner); die Hauptrolle spielte Kaoru Kobayashi als männlich-herber „Master“ des Mitternacht-Imbisses in Shinjuku.
Kamogawa Shokudô, so der Originaltitel des im Jahr 2013 publizierten Romans von Kashiwai, handelt von einem besonderen Restaurant in der alten japanischen Metropole Kyôto: Es ermöglicht seinen Kunden eine Wiederbegegnung mit lange entbehrten Geschmackserlebnissen – ein sprichwörtlicher Geheimtipp, da die Adresse nicht öffentlich zugänglich ist. Nur durch entsprechende Beziehungen, gute Kombinationsfähigkeiten oder durch eine glückliche Fügung erreichen die sechs Portraitierten das begehrte Ziel: „Das ist doch das Spannende an menschlichen Verbindungen. Wenn jemand seinen Weg hierher finden soll, dann wird er das auch tun.“
Schon Nagare Kamokawas Kochkunst allein versetzt den Gast in einen zufriedenen Zustand. In einem zweiten Schritt erkennt er die Kümmernisse seiner Kunden und trägt als weltweiser Mann zu ihrer Überwindung bei. Assistiert wird der Witwer von seiner (heiratswilligen) Tochter Koishi, die auch die Verwaltung der Detektei innehat. Die verborgene Örtlichkeit bietet demnach einen doppelten Service: Der Chef des „Kamogawa Shokudô„, Nagare Kamogawa, ein ehemaliger Polizeibeamter, kann demjenigen, der einen Suchantrag stellt, unter Aufbietung seines enormen Spürsinns, spätestens zwei Wochen nach der Anfrage das gewünschte Gericht servieren. Dabei geht es meist nicht nur um die Speise als solche, sondern um die damit verbundenen wertvollen Reminiszenzen. Hier zeigt sich dann die ausgeprägte mitmenschliche Sensibilität des begabten Kochs. Er arbeitet immer im Sinne des – auf seine als schön oder traurig empfundene Vergangenheit fixierten – Suchenden, um ihm am Ende, einem geschickten Therapeuten ähnlich, zur Lösung des Erinnerungskomplexes zu verhelfen.
Rezepte und Beratungseffekte
Im Fall eines offensichtlich sehr hochstehenden Besuchers des Imbisses dehnt sich die Recherche des Chefs auf Makrelen-Sushi aus. Wie bei allen anderen fünf nachgefahndeten Speisen, Udon-Nudeleintopf, Rindereintopf, Fleischkartoffel-Eintopf, Tonkatsu-Schnitzel oder Spaghetti Napolitana, handelt es sich bei den Gerichten eher um Hausmannskost und nicht um Haute Cuisine – charakteristisch für die japanischen Gastro-Romane, in denen Volkstümlichkeit wertgeschätzt wird.
Nagare erklärt dem inkognito erschienenen Mann, wie er mittels weniger Hinweise auf einen Ryokan-Gasthof mit Namen Kuwano, auf ein „lebendes Torii“, „Okinawa“ und „gelben Sushi-Reis“, die gesuchte Speisenzubereitung fand. Die Spur führt zu einem Baum, der vor einem Wohnhaus wächst, das man anstelle des Gasthofs errichtet hat:
(…) eine Tosa-Mizuki aus der Familie der Zaubernussgewächse. Im Frühling bildet sie schöne gelbe Blüten. Ich habe die älteren Menschen, die dort leben, gefragt, und sie meinten, dass der Baum schon zu Zeiten des Ryokans dort gestanden hatte. Da begann ich zu vermuten, dass die Besitzerin des Ryokans vielleicht aus derselben Gegend wie dieser Baum gekommen war. Tosa ist nämlich der Name einer alten Provinz auf der Insel Shikoku, und Kuwano im Zusammenhang mit Shikoku sagte mir auch etwas … Also habe ich recherchiert und stieß auf den Namen Kuwa-no-kawa. So heißt eine Gegend in der Stadt Nankoku auf Shikoku, Präfektur Kôchi. Es schien also wirklich einen Zusammenhang zwischen Tosa und den Ryokan Kuwano zu geben.
Ebenso detailliert lesen sich die Erklärungen zum Rezept des Makrelen-Sushis. Nagare legt dar, dass dem Sushi eine Scheibe Riesentarô, das heißt eine wurzelgemüseartige Kartoffel beigefügt sei und man in Tosa diese Riesentarô Ryûkyû nenne – mit dem Begriff Ryûkyû ergäbe sich dann der Bezug zu Okinawa. Der gelbe Reis sei wiederum auf eine ausgefallene Marinade zurückzuführen: Ihr ist nicht nur Essig, sondern, wie in Tosa üblich, Yuzu-Saft beigefügt. Der geheimnisvolle Gast würdigt die Rekonstruktion des Gerichts seiner Erinnerung. Als Antwort auf die Frage, warum er denn als Kind dieses Sushi im Gasthaus „Kuwano“ gegessen habe, erwidert er:
Nun, das hat damit zu tun, dass es bei uns zu Hause immer ziemlich einsam war. Mein Vater war, wie ich letzte Woche schon erzählte, fast immer weg und meine Mutter hatte tagsüber auch viel zu tun. Ich habe selten so etwas wie familiäre Geborgenheit zu Hause gespürt. Dafür war aber Haru, die Besitzerin des Ryokan, sehr nett. Wenn sie sah, wie ich allein vor unserem Haus spielte, lud sie mich immer zu sich auf die Terrasse ein.
Die Inhaberin des Gasthofs hat sich, so der Mann, seiner erzieherisch angenommen und ihn, wie man schließen kann, entscheidend geprägt. Er verrät, er habe entgegen den Direktiven seines Vaters tatsächlich mit dem Gedanken gespielt, das Kochen zu erlernen, schlussendlich dann seinen jetzigen Beruf aus einem ähnlichen Grund gewählt: Um „Menschen damit glücklich zu machen“. Leider sei es manches Mal für die Erreichung eines Ziels unvermeidbar, eben jenen Menschen eine bittere Medizin zu verabreichen. Nur habe er zunächst nicht daran gedacht, welche Gefühle solche ungenießbaren Verordnungen auslösen: „Daher wollte ich meine Erinnerung wiederbeleben, wie es ist, etwas zu essen, das einem wirklich gut schmeckt…“
Von dem Kunden, der sein Recherchegesuch mit dem fingierten Namen Tarô Yamada unterzeichnet, kann man annehmen, dass er Japans Ministerpräsident höchstpersönlich ist – zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Texts also Abe Shinzô, wobei dieser nicht unbedingt Vorbild jenes fiktiven Staatsoberhaupts mit der speziellen Lieblingsspeise sein mag. Nagare kommentiert den Besuch des Tarô Yamada mit dem Satz: „Aber wer weiß, vielleicht rettet ein Teller Makrelen-Sushi irgendwann sogar noch unser Land…“
Kamogawas Speisekarte und die alte Hauptstadt
Während das einfühlend Unausgesprochene als das Ideal japanischer zwischenmenschlicher Verständigung gilt, stellen die Themen der Köstlichkeit saisonaler Küche, zubereitet von kundiger Hand, das Vater-Tochter-Gespann sowie eine Katze namens Hirune die Leitmotive der sechs Episoden dar. Zudem baut der Text auf die Kultur Kyôtos. Die Speisekarte des „Kamogawa Shokudô„ bringt stets die Spezialitäten der alten Hauptstadt und ihrer umliegenden Region zur Geltung. Nagare erläutert das Menü:
Das hier ist rote Akashi-Meerbrasse als dünnes Sashimi, optisch verfeinert mit jungen Blättern des Sichuanpfeffers. Ich empfehle dazu diese Ponzu-Sauce. Hier etwas Kamo-Aubergine, mit Miso angebraten. Herzmuschel aus Maizuru bei Kyoto in einer Myoga-Ingwerknolle. Gepresstes Sushi mit jungem Konoshiro-Hering in süßsaurem Essig. Hier haben wir noch panierte und frittierte Samatsutake-Pilze, zweifach gebratenen Seeaal, Tempura von Manganji-Paprika, sie kommt auch aus Maizuru. Diese Seeohrschnecke hier habe ich in weißem Miso mariniert und danach gebraten. Außerdem sind da noch Fischnudeln und japanisches Huhn in Kuramapfeffersoße, geräucherte Makrele mit Pinienkernen sowie frische Sojamilchhaut mit eingelegtem Shiso-Kraut.
Ähnliche Aufzählungen finden sich in etlichen Passagen des Bandes – man sollte als Lesender besser viel Interesse für die japanische Esskultur mitbringen und, wäre dies der Fall, die Lektüre vorzugsweise nicht mit leerem Magen beginnen. Kashiwais Text, in Japan mit über 80.000 Exemplaren ein Bestseller, von dem es bereits sechs Fortsetzungen und seit 2016 eine filmische Version (NHK) gibt, ist an sich ganz dazu angelegt, eine behagliche Stimmung zu erzeugen. Im semi-magischen Einzugsbereich des Kamogawa Shokudô entsteht positives Karma: Altes wird gewürdigt, Neuem der Weg bereitet und die Menschen sind gleichwertig. Am Ende also alles gut, wie im Märchen.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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