Blicke hinter die Fassade

Annika Reich deckt in „Männer sterben bei uns nicht“ die kleinen und großen Machtkämpfe in einer von Frauen dominierten Familie auf

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In ihrem neuen Roman Männer sterben bei uns nicht öffnet Annika Reich die gut verschlossenen Türen ins prächtige Anwesen einer von insbesondere einer Frau dominierten Familie, das eine klare Ordnung aufweist. Männer sind abwesend – wie der Titel sagt, sterben sie anderswo. Auch Frauen sind abwesend, etwa die Schwester der Ich-Erzählerin Luise. Leni war eines Tages weg, und erst nach und nach stellt sich heraus, dass Leni nicht den Anweisungen der alles bestimmenden Großmutter väterlicherseits folgen wollte und für dieses Verhalten bestraft worden war.

Das ist nicht das einzige Geheimnis in der Familie, denn Widerstand gegen die allmächtige Großmutter bleibt in diesem Haus nicht ohne Folgen. Sie, die Mutter des abwesenden Vaters, wird von Luise nur „Großmutter“ genannt, sie brauche keinen zusätzlichen Namen, „weil sie das Original war, die Erstrangige, die Herrin des Anwesens, der Gefühle und des Lebens“. Neben ihr fällt der anderen Großmutter, Vera, nur ein schmaler Platz zu. Bei ihr sieht Luise, die den Blick der Großmutter übernommen hat, 

an was es Großmutter Vera mangelte. Oder ich hatte sie durch die Augen meiner Mutter gesehen, die ihr all das anlastete, was in ihrem Leben nicht erblüht war, die sie verachtete und meinte, nach allem, was passiert sei, das Recht zu haben, ihr mit Härte begegnen zu können.

Auf ihrer Reise in das Familienarchiv muss Luise vorsichtig sein, um nicht überfordert zu werden von den unzähligen folgenschweren Geschichten, die sich ihr nach und nach offenbaren. Mäandernd nähert sie sich von verschiedenen Seiten her an, schaut hier genauer hin, stellt da Fragen, hakt dort nochmals nach. So lesen wir denn keine linear erzählte Geschichte. Annika Reich lässt ihre Protagonistin ihren Assoziationen in der Gegenwart und zurück in die Geschichte folgen, wobei die Beerdigung der Großmutter ein zentrales Moment bildet. Hier treffen sich die Familienangehörigen – und zwar nicht nur jene Frauen, die gemeinsam auf dem Anwesen gelebt haben –, hier eröffnen sich auch neue Möglichkeiten, miteinander in Kontakt zu kommen, weil die Großmutter die Fäden nicht mehr in der Hand hält. Hier auch erlebt Luise, dass ihre Verwandten Menschen sind, die zwar eine schwierige Familiengeschichte verbindet, die aber als Persönlichkeiten interessant sind und die kennenzulernen – und nicht länger durch die Augen der Großmutter zu schauen – lohnenswert sein könnte. Gleichzeitig sieht sich Luise aber auch mit dem ganz konkreten, materiellen Erbe konfrontiert, wurde sie doch von Großmutter als Alleinerbin des Anwesens eingesetzt.

Nach der Beerdigung fährt Luise alleine dorthin zurück, um es sich endlich genau anzuschauen. Sie geht an den fünf Häusern vorbei, „an unserem und an Großmutter Veras Haus, an Großmutters und an Mariannas Haus“, um zum fünften Haus zu gelangen, in das sie als Kind mit ihrer Freundin eingedrungen ist und wo sie das Motorrad ihres Vaters entdeckt hat – eines Vaters, der für sie immer inexistent war. Das Motorrad versenkt sie im See. Am Ufer sitzend spürt sie eine mögliche Zukunft im Miteinander.

Annika Reich legt einen faszinierenden Roman vor, der gerade durch seine Ungereimtheiten überzeugt – denn Familiengeschichten sind selten geradlinig und ohne Geheimnisse und Widersprüche. Der Roman erzählt eindringlich davon, wie verknotet und komplex Familiengeschichten sich entwickeln. Einfache Kausalitäten sind fehl am Platz, es geht weder um Versöhnen noch Verzeihen. Luise schaut genau hin, das ist ihre Stärke. Und sie tut dies immer wieder mit (Selbst-)Ironie und Humor. Dank einer klaren und knappen Sprache, die viel Raum lässt, bleibt die Leserin nah am Geschehen und wahrt doch genügend Distanz, um nicht vereinnahmt zu werden, wie es Luise und den anderen weiblichen Familienmitgliedern immer wieder geschehen ist.

Titelbild

Annika Reich: Männer sterben bei uns nicht. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2023.
208 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783446275874

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