Ovid hat Covid
Überlegungen zum jüngst erschienenen „Winterpoem 20/21“ der russischen Dichterin Maria Stepanova
Von Georg Witte
Das jüngst erschienene Winterpoem 20/21 der von mir hochgeschätzten russischen Dichterin Maria Stepanova, in kongenialer Übersetzung durch Olga Radetzkaja, macht mich ratlos, wohl auch zornig. Stepanovas Rolle als Akteurin einer kulturellen Gegenöffentlichkeit in Russland (u.a. als Begründerin des Internetportals colta.ru) und als wichtige Stimme im Kontext einer Post-Memory-Literatur (vgl. ihren Roman Nach dem Gedächtnis von 2017, in deutscher Übersetzung 2018 erschienen) ist unbestritten. Ihr neues Werk aber wirft einige Fragen auf, was das heutige Selbstverständnis russischer Poesie betrifft.
Beginnen wir mit dem, in diesem Falle wahrlich nicht nebensächlichen, Klappentext. Suhrkamp vermarktet das 2020 unter dem Eindruck der coronabedingten Vereinsamungen entstandene Werk mit dem Satz: „Seit dem Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine liest es sich wie ein Reflex auf die unmittelbare Realität.“ Viel wurde im letzten Jahr debattiert über die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten russischer Autoren, sich angesichts des russischen Invasionskriegs literarisch – und anderweit öffentlich – zu äußern. Es wurde gar ein Generalverdacht gegen die gleichsam wesenhaft imperialistische russische Literatur, eingeschlossen die oppositionelle, verkündet, und daraus folgte ein Reue- und Schweigegebot für russische Künstler und Intellektuelle. Der Dogmatismus solcher Positionen ist offensichtlich. Eine andere Frage ist es aber, ob Werke russischer Autorinnen und Autoren, die nichts mit der heutigen Situation zu tun haben, sich nun mit einem vermeintlichen Bezug zum Ukrainekrieg schmücken, sich mit einer Geste der eigenen Betroffenheit „aktuell“ machen. Stepanova selbst bedient zu allem Unglück diesen Verdacht, wenn sie im Gespräch mit der Übersetzerin, ebenfalls im vorliegenden Buch publiziert, die nicht sehr bescheidene Feststellung macht, die Bilder ihres Poems seien „wie eine Art Ouvertüre – ein Prolog zu dem, was gegenwärtig in Europa geschieht“. Das ist nicht nur eine unglückliche Legitimierung der Publikation eines solchen Buchs zum jetzigen Zeitpunkt. Es ist der Versuch, sich nachträglich zur Seherin der Katastrophe zu adeln, oder auch – nolens volens – symbolisches Kapital aus dem Krieg zu gewinnen.
Alles nur eine Sache des verunglückten Framings? Leider nein. Denn das Werk selbst zeigt, wie eine russische Autorin noch im Jahr 2020 – vor dem Februar 2022, aber schon lang nach 2014 – nicht unbedingt durch eine kritische Aufmerksamkeit für unbewusste imperiale Implikationen literarischer Selbstverortungen glänzt. Kern der gesamten Unternehmung ist die Analogie zwischen der Einsamkeitserfahrung einer aufgrund der Pandemie auf ihre Datscha ‚verbannten‘ russischen Autorin mit der Situation Ovids während seiner Verbannung durch den römischen Kaiser in Tomis (heute das rumänische Constanta). „Am Beginn des Buchs stand eine aufmerksame Lektüre Ovids – bei der mir zu meiner Freude plötzlich klar wurde, dass ich gar nicht über die Pandemie zu schreiben brauche, weil Ovid das schon für mich erledigt hat, als er seine Verbannung in Tomis beschrieb.“ Durch Bescheidenheit zeichnet sich auch diese Bezugnahme nicht aus. Ein vom Imperator des römischen Reichs an das, nach damaligen Vorstellungen, Ende der Welt Verbannter, ein mundtot Gemachter – als Vergleichsfolie für die Covid-Beeinträchtigte.
Schlimmer aber als diese verrutschte Proportion, als dieses Ausblenden der existentiellen Abgründe zwischen den beiden verglichenen Situationen, ist eine ganz andere Implikation, die diese permanente Selbstprojizierung auf Ovid mit sich bringt. Sie sagt, in Klartext übersetzt: wir beide, Ovid und ich, sind Dichter eines Imperiums – verfemte, verstoßene Dichter zwar, aber doch exklusive Teilhaber an einer kulturellen Tradition, wie sie nur Imperien zu bieten haben. Das könnte man als kritische Einsicht verstehen, doch wundert es dann, warum dieser Gedanke nie thematisiert wird. Es ist viel zu selbstverständlich, zu unhinterfragt, dass im „RI“, wie es an einer Stelle im Text genannt wird, sich Römisches und Russisches Imperium treffen. Daraus ergibt sich, zweiter Schritt, dass es besonders – um nicht noch einmal zu sagen: exklusiv – russische Autoren sind, die sich mit Ovid identifizieren dürfen und müssen, „er ist unser Schutzheiliger“. Der römische Kaiser fragt an einer Stelle im Poem seinen Referenten: „Was Neues von Naso? Was schreibt er denn so in seinem Woronesh?“ Eingeweihte wissen, dass hier offensichtlich auf Ossip Mandelstams späte, in Woronesh entstandene Gedichte aus der Verbannung Bezug genommen wird. Nicht Eingeweihte verstehen: die römischen und die russischen Dichter sind vereint im Leiden am Kaiser.
Die von Stepanova genannte Ahnenreihe ist ehrfurchterweckend: Puschkin, Mandelstam, Brodsky. Für zwei der genannten Autoren, Puschkin und Brodsky, ist mittlerweile hinreichend deutlich gemacht worden, dass deren oppositionelle Haltung sie nicht bewahrt hat vor dummer Dichterpropaganda für einen russischen Kulturimperialismus. „Für die russische Tradition“ ist Ovid so wichtig, „eine Art Hausgott“, sagt Stepanova. „In Russland, dessen Geschichte von Verbannten, in Ungnade Gefallenen, Ausgebürgerten, Zuchthäuslern, Ausbrechern, politischen Gefangenen geradezu wimmelt“, ist Ovids Motiv der Verbannung gleichsam zu seiner Wahrheit gekommen. In Russland, in Russland. Aber kein Wort von den in eben diesem Imperium verbannten, umgesiedelten, ermordeten Nichtrussen, ethnisch Zweitrangigen. Es scheint auch einen Imperialismus des Leidens zu geben. Wie war das mit dem Klappentext?
Das Poem selbst ließe sich am besten charakterisieren als eine intertextuelle Symphonie über das Leitmotiv der Kälte – als physisch reale, am eigenen Leib im Verbannungsort erfahrene ebenso wie als metaphorische Kälte. Die Kälte liefert ein reiches Reservoir starker Bilder für soziale Vereinsamung und, vor allem anderen, für die ins erzwungene Schweigen eingefrorene Literatur. Der Gestus poetischer Selbstreflexion durchzieht das Poem wie ein roter Faden: immer wieder das Thema des verbotenen, zensierten, seine Leserinnen und Leser auf Umwegen erreichenden Buchs, des Schreibens unter den Bedingungen der Isolation. Die Bilder sind intensiv, Stepanova ist eine inspirierte Dichterin. Sie öffnen die Tür zum Surrealen, treten aber nicht ganz hinüber in eine andere Welt, sondern vermitteln die Grenzerfahrung zwischen dem gerade noch und dem nicht mehr Vorstellbaren: einfrierender Kittel der Friseurin; aus dem Eis hervorstarrende Fische mit offenem Mund, und „keiner da, der sie rauszieht“; eingefrorener Wein, von dem man sich Stücke abbricht.
Die Kälte ist auch eine Temperaturmetapher für das kulturelle Gedächtnis: gefrorene Worte, die, als potentielles Gedächtnis, eingefroren bleiben, bis sie, re-evoziert, als erwachtes, erwecktes Gedächtnis wieder auftauen, wieder in den Fluxus des universalen kulturellen Austauschs einmünden. Und wahrlich universal ist der Anspruch dieses zitierenden Gestus – mit etwas engeren Echokammern gibt sich die Autorin nicht zufrieden: Neben Ovid sind es altgriechische Tragiker, Dantes Divina Comedia, Rabelais, klassische chinesische Dichter, romantische Märchen von Andersen bis E.T.A. Hoffmann, englische Expeditionsberichte aus dem 18. Jahrhundert von Reisen nach Russland, die Abenteuer des Barons von Münchhausen und die erotische Korrespondenz zwischen der Zarin Katharina II. und ihrem Favoriten Fürst Grigorij Potjomkin, die in echten oder Quasizitaten aufgerufen werden. (Katharina und Potjomkin waren übrigens zwei Initiatoren der Schwarzmeerexpansion des russischen Imperiums, mit ihnen an erster Stelle ist die Unterwerfung der Krimtataren, die Gründung von Städten wie Cherson verbunden. Es wäre eine Erwähnung wert gewesen, heute, in einem Werk, das als Ouvertüre der Katastrophe gelten soll.)
Von Ovid werden, im zweiten Teil des Poems, seine „Heroiden“ besonders herausgestellt, jenes unikale Werk, in dem weibliche Heldinnen sich, mit ihrem Zorn, ihrer Liebe, ihrer Trauer, in Briefen an ihre Männer und Geliebten wenden. Dies sind die interessantesten, die gelungenen Passagen des Buchs, hier wird Literatur im starken Sinn des Worts tradiert = transformiert. Stepanova befreit die Stimmen dieser Frauen aus der Kontrolle ihres literarischen Meisters. Ich werde den Eindruck nicht los, dass dies als eigenes Werk konzipiert war und dann einen sehr weiten, unpassenden Königsmantel umgelegt bekommen hat. Vielleicht wäre es ehrlicher gewesen, sich auf diese Auseinandersetzung zu konzentrieren, anstatt einen gewaltigen Zitaten-Überbau darüber aufzurichten. Das von der Autorin im Gespräch mit der Übersetzerin verwendete, ein wenig abgenutzte Bild vom „Chor der Stimmen“, der von ihr aus dem ewigen Eis des Schweigens befreit wird, führt weg von einer solchen Konzentration, einer solchen Auseinandersetzung. Ovids Heroiden zu neuer Stimme, neuen Stimmen verhelfen, ist etwas anderes, als im etwas bildungsbürgerlichen Augenzwinkermodus den Wissenden einige Winke zu geben.
Das berührt die prinzipiellere Frage nach den Perspektiven einer Literatur, die sich unverbrüchlich im ausgestellten Gestus postmoderner und akademischer Intertextualität präsentiert. Lassen sich heute noch so selbstverständlich Namen als Traditionsverweise verwenden, wie es etwa Mandelstam noch tat, um mit griechischen und römischen Heldennamen und Toponymen, mit ovidischen Echos einen antiken Sound zu erzeugen? (Es war übrigens Mandelstam, der das Motiv der Kälte nicht für die Ränder des Reichs, den „Norden“ nach römischem Mental Mapping, sondern für das Zentrum selbst veranschlagte. Nicht Rom, sondern Byzanz als Reich des politischen Frosts, ist in seiner „Vierten Prosa“ die Vergleichsfolie für Russland.) Wann schlägt das existentielle Nachvibrieren von Tradition in eine Pose des Wissens um? Solche Posen sehe ich, wenn da etwa „Pasiphaes Söhnchen“ en passant auftaucht: Wer, außer den aus der europäischen Tradition Ausgeschlossenen = Ungebildeten, wüsste denn nicht, um wen es sich handelt? Und so plätschern die Namen. „Marie Stahlbaum“ – was, haben Sie E.T.A. Hoffmann nicht gelesen? Und wer darf auf keinen Fall fehlen? Tatjana Larina aus Puschkins Jewgeni Onegin. Ohne Puschkin – kein Adel.
Еtwas weniger Höhenkamm, etwas weniger Anspruch auf Weltliteratur, etwas weniger ‚großes Werk‘, etwas weniger Echoraum für Meisterstimmen, etwas weniger kristalline Eleganz, etwas mehr poetische Demut, etwas mehr Gestammel, etwas mehr Dummheit – das wäre ein Segen für die russische Dichtung. Für jede Dichtung, die sich zu relativieren lernt.
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