Keine „Vier Mädels aus der Wachau“

Maria Lazars zweiter Roman „Viermal ich“ erzählt von ungleichen ‚Freundinnen‘

Von Günter HelmesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Helmes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit Ende 2014 erscheinen im Verlag “Das vergessene Buch“ sukzessive die Werke der lange Zeit vergessenen österreichischen, in eine begüterte jüdische Familie hineingeborenen Schriftstellerin, Publizistin, Dramatikerin und Übersetzerin Maria Lazar (1895–1948). Auf literaturkritik.de wurde zuletzt 2020 deren Roman Leben verboten! aus dem Jahr 1932 nachdrücklich empfohlen, eine, wie Albert C. Eibl sie im Nachwort beschreibt, „antifaschistische Tendenzschrift mit oppositionell-subversivem Subtext“. Nun hat der Verlag mit Viermal ich einen weiteren, Ende der 1920er Jahre noch unter Lazars Klarnamen entstandenen, Roman vorgelegt. Dieser hat mit ihrem unter dem seit Anfang der 1930er Jahre (vgl. Veritas verhext die Stadt, 1930/31) aus (kultur-)politischen Gründen verwendeten Pseudonym Esther Grenen publizierten, „hellsichtigen Roman über das Heranreifen des Nationalsozialismus in der österreichischen Provinz“ (Eibl) Die Eingeborenen von Maria Blut (1958, 2015) gemeinsam, dass er nicht zu Lebzeiten der Autorin erschienen ist. Mit anderen Romanen wie ihrem Debütroman Vergiftung (1920, 2014) hingegen teilt er den, wie der im Nachwort von Albert C. Eibl zitierte Robert Musil dies formulierte, „rücksichtslos unbefangenen Blick“ und die „behende Kraft im Figuralen“.

Der zugleich ernsthafte und problembeladene, kesse und kurzweilige, fesselnde und sogar Schauder auslösende Roman ist als zuweilen atemlos-panisches, ebenso lust- wie angstbesetztes und immer wieder selbstreflexiv-stockendes, auch selbstzensurierendes „Bekenntnis“ angelegt: „Nein, das schreibe ich nicht, das schreibe ich nicht. Es gibt auch Dinge, die man nicht schreiben kann. Ich will es nicht wissen.“

Der behaupteten Funktion nach geht es um einen selbsttherapeutischen Versuch eines „hypersensitive[n]“ (Eibl), geradezu verzweifelt um Identität, Selbstvergewisserung und ‚Vergebung‘ ringenden, weiblichen Ichs. Das kommt am Ende allerdings zu dem offensichtlich Leserinnen ansprechenden, etwas herbeigeführt wirkenden Schluss, dass wir „einander alle sehr ähnlich“ sind, womit begründet wird, dass das „Bekenntnis“ identifikatorischer Lektüren halber veröffentlicht werden sol:

Ich habe nicht die Absicht, irgend eine komplizierte Liebesgeschichte […] zu verfassen. Ich erzähle bloß von meiner Kindheit, meiner Jugend, ihren Schmerzen, ihren Kämpfen, ihren Irrtümern, und wenn das alles hier steht […], dann gibt es doch keinen Zweifel mehr, dass es auch wirklich meine Schmerzen waren, meine Kämpfe und meine Irrtümer. / Denn ich, nicht wahr, ich habe doch auch ein Recht auf das Leben, mein Leben […].

Dieses Ich – „Ich gefalle mir, aber ich habe mich nicht lieb“ –, eine namenlos bleibende Bibliothekarin, die dem Ehemann Axel der ‚Freundin‘ Grete verfallen ist, bezeichnet sich selbst als „sicher oder höchstwahrscheinlich schlechte Person“, als „Ungeheuer“, als „bis zum Wahnwitz“ neugierigen, wissensdurstigen „Vampyr“, als „Mörderin im Kleinen“, die – „Um Himmelswillen, gibt es denn keine Hilfe!“ – dem „Tohuwabohu, in dem alles erstickt, Chaos und Vernichtung“ zu entkommen versucht:

Aber es muss etwas geschehen. Denn wenn es einmal so weit geht, dass ich nicht nur denke und fühle wie die anderen, sondern auch handle – das wird entsetzlich, das wird gefährlich. / Wenn die Spiegel versagen, die Schaufenster und die Glaskugel […], vielleicht hilft dann das Wort, das geschriebene Wort. Wie heißt es doch: UND DAS WORT IST FLEISCH GEWORDEN … / Jeder Bleistift, mit dem ich schreibe, soll eine Waffe sein. Eine Waffe gegen Grete, gegen Ulla, gegen Anette, und nicht zuletzt auch gegen die Fremde. Und wer hier schreibt bin ich. Jawohl ich! Ich allein!

Der psychologisch versierte, unter anderem an Freud geschulte Roman, der aller Ich-Bezogenheit zum Trotz viel Sozial-, Kultur- und Alltagsgeschichte vorhält, erzählt vom Heranwachsen, Erwachsenwerden und frühen Erwachsensein von vier auf merkwürdige Weise miteinander verbandelten Mädchen unterschiedlicher Herkunft, Wesens-, Gesinnungs- und Handlungsart in einer der Haupthandlung nach nicht weiter benannten Großstadt. Es könnte sich um Wien handeln, aber auch um andere mitteleuropäische Großstädte; der Roman, der auch Berlin zum Handlungsort hat, geht auf Typik aus.

Diese „Notizen“ – so eine weitere Bezeichnung des Romans seitens der Autorin -, deren erstes Kapitel eine Art Vorwort und deren letztes eine Art Nachwort darstellt, arbeiten ausgiebig mit Kompositionsverfahren, die man ebenso gut mit dem Film (Schnitttechnik) wie mit der Technik des Bewusstseinsstroms in Verbindung bringen kann. Sie spielen in den 1910er und 1920er Jahren und nehmen bei gemeinsamen (Vor-)Schulerfahrungen der Mädchen ihren Ausgang. Dabei sind sie aber nicht nur Rückblick, sondern, nach knapp der Hälfte des Romans und einer behaupteten dreimonatigen Schreibpause, stellenweise auch so etwas wie ein Tagebuch: „Ich las gestern die ganze Nacht in dieser meiner Lebensgeschichte. […] Es hilft ja doch nichts, dieses Gekritzel. Wenn es helfen könnte, dann wäre das [jüngst] alles nicht geschehen.“

Inhaltlich geht es um eine Vielzahl an meist mit der Ich-Erzählerin und deren ‚Freundinnen‘, aber beispielsweise auch mit Verwandten, mit Hausmädchen, mit Amtsträgern oder mit Vorgesetzten verbundenen Themen – allesamt aktuell damals, in der Mehrzahl aktuell auch heute noch; in alphabetischer Reihung: Abtreibung, Adoleszenz, Affären, Betrug, Ehebruch, Eifersucht, Erotik, Familie, Freitod, Freundschaft, Geburt, Glück, Hass, Inzestuöses, Kindheit, (Formen der) Liebe, Lust, Menstruation, (Sexual-)Moral, Schuld, Schwangerschaft, Selbstbefriedigung, Sexualität, Siechtum, Tod, Verlässlichkeit, Verrat, Übergriffe – die so schon überlange Reihe ließe sich noch leicht verlängern.

Den entwickelten Perspektiven auf diese Themen nach handelt es sich um eine neusachliche Haltung. Neusachlich ist auch der zuweilen „schnoddrig-aufgekratzte[] Plauderton“ (Eibl), doch lassen sich stilistisch auch einschlägige, bildstarke Anleihen beim Expressionismus –„Straßenlärm kollerte in die lateinischen Vokabeln“ – und sogar Vorgriffe auf Erzählverfahren unserer Zeit ausmachen. Von daher ist dem klug charakterisierenden Herausgeber allenfalls hinsichtlich einer gewissen Hyperbolik zu widersprechen, wenn er von einer verdichteten „impressionistischen Sprach-Gefühlswelt“ schreibt, „die die Prosa Irmgard Keuns und anderer Autoren ihrer Zeit stilistisch weit hinter sich lässt und damit zugleich souverän vorgreift auf ästhetische Brechungsverfahren und narrative Fragmentarisierungstendenzen des postmodernen Romans.“

Personell verdient neben dem Erzähl-Ich und dessen hier aus Platzgründen vernachlässigten, in prekärer, erzählerisch im Einzelnen entfalteter Weise‚ Freundinnen vor allem noch die zuvor von der Erzählinstanz ins Spiel gebrachte Fremde Beachtung. Bei ihr, einem Verborgenes und insgeheim Gewusstes hervorbringenden Wesen in spiegelnden Oberflächen vornehmlich, handelt es sich um eine Mischung aus Schatten-Ich sowie freudianischem „Es“ und „Über-Ich“. Die Fremde ist eine abseits stehende Instanz, die niederträchtigerweise, wie es heißt, permanent dem Ich und ihren ‚Freundinnen‘ zuschaut. Vor ihr hat das Erzähl-Ich Angst, „sehnt sich aber dennoch nach ihr“, der „Unerreichbaren, der „sanften Schwester“.

Abschließend sei noch einmal auf das ausgezeichnete, autobiographisch unterlegte und sich als „Hommage an Maria Lazar“ verstehende Nachwort von Albert C. Eibl und den schmalen, doch informativen Apparat hingewiesen. Dieser Apparat enthält auch ein hellsichtiges, wie auf heute gemünztes Gedicht der Autorin mit dem Titel „An meinen unbekannten Leser“.

Das Nachwort endet mit dem Kapitel „Der Nachlass in Metallkisten“. Dieses schmale Kapitel bewegt, berichtet es doch davon, warum der von Maria Lazar noch selbst „minutiös vorgeordnete“, reichhaltige Nachlass erst 2020, mehr als 60 Jahre nach dem krankheitsbedingten Freitod der Autorin also, geöffnet wurde. Schließlich weist es auf anstehende Initiativen des Verlags hin, die dazu beitragen sollen, dass „Maria Lazar als eine der bedeutendsten deutschsprachigen Autorinnen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts heute und in Zukunft die Anerkennung zuteil wird, die ihr im Leben größtenteils versagt blieb.“ Auf weitere Maria Lazar-Titel darf man sich von daher schon jetzt freuen.

Titelbild

Maria Lazar: Viermal ICH.
Das vergessene Buch – DVB Verlag, Wien 2023.
224 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783903244269

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