Nachträgliche Zukünftigkeiten
Julia Schoch schildert in „Das Liebespaar des Jahrhunderts” die langsame Zerstörung eines Superlativs der Gefühle
Von Stephan Wolting
Die Zukunft lag vor uns. Ich wusste, eines Tages würde sie hinter uns liegen, ganz bestimmt. Ich wusste es, oder ich nahm es an, aber ich konnte es nicht fühlen. Deshalb war es mir egal.
Spätestens seit ihrem von der gesamten Literaturkritik hochgelobten Werk Das Vorkommnis gilt Julia Schoch als Spezialistin für autofiktionale Literatur. Dieser Zuschreibung wird sie auch mit ihrem neuen Werk Das Liebespaar des Jahrhunderts gerecht. Ging es in Das Vorkommnis um eine bröckelnde Familiengeschichte, in der die Protagonistin scheinbar über Nacht eine Halbschwester bekommt, so handelt das neue Werk von einer langjährigen eheähnlichen Beziehung und der Frage, ob und wie man sich trennt. Dazu finden sich im Werk viele kluge Sätze, wie: „Vielleicht hat das Zusammenleben mit mir dich zu jemandem gemacht, der mir allmählich unerträglich geworden ist.”
Allerdings kommt bereits zu Beginn eine Verwunderung bei dem/der Leser*in in Zusammenhang mit einer Enttäuschung der Erwartungshaltung auf, die mit dem Titel aufgebaut wird. Handelt es sich doch nicht um einen Superlativ des „Liebespaars des Jahrhunderts” – an einer anderen Stelle heißt es auch „zwei Liebende wie in einem Jahrhundertschlaf” –, wie suggeriert und vorschnell verstanden werden könnte, sondern um ein gewisses repräsentatives Liebespaar des Jahrhunderts, in dem „sämtliche Paare dieser Welt enthalten waren”, so wie wir es also alle hätten sein können und es vielleicht sogar in gewisser Weise oder auch nicht mehr sind.
Die meisten von ihnen hatten sich von ihren ersten Partnern getrennt, lebten allein oder in zweiter oder sogar dritter Ehe. Insgeheim freute es mich, die Zusammenfassungen ihrer üblen Erfahrungen zu hören (…). Ihre Erzählungen gaben mir für einen kurzen Augenblick das Gefühl, wir wären noch immer das Liebespaar des Jahrhunderts.
Hier sickert leise Ironie als Mittel zur Charakterisierung des „Liebespaars des Jahrhunderts“ durch. Diese verpackt zugleich „Antworten”, alles aus der zum Teil inneren Perspektive der Ich-Erzählerin im Sinne einer Art von „chronologischem Bewusstseinsstrom“, auf folgende Frage in die Geschichte: „Wo geht die Liebe hin, wenn man sagt, sie ist verschwunden?“
Julia Schochs Werk Das Liebespaar des Jahrhunderts ist der zweite Teil einer Trilogie mit dem Titel „Biografie einer Frau”. Die Autorin schafft es, einem auf den ersten Blick so banal erscheinenden Thema eine neue, andere und großartige Sprache zu geben. Ohne spoilern zu wollen, fragt sich die/der Leser*in jedoch gleich zu Beginn, warum man einer verflossenen Liebe nachträglich so viel Bedeutung in Form genauer Beschreibungen zu geben muss.
Zum anderen ließe sich fragen, ob so ein überstrapaziertes Thema überhaupt noch trägt – und siehe da, es tut es, was vor allem der Darstellung der Autorin geschuldet ist. Was aber macht dieses Werk so außergewöhnlich, dass es nicht eine schlechte Rezension in den größeren deutschsprachigen Gazetten gibt? In der SZ nennt es Elke Heidenreich ein Werk, wie von ihr selbst geschrieben, und zugleich das „wahrste Buch über diese Dinge”, das sie seit langem gelesen hat. Julia von Sternburg spricht in der FR von „Bezauberung und Überwältigung durch die Liebe“. Sie lobt die pointierten Beobachtungen, die den Angehimmelten interessanter erscheinen lassen als er ist, was in Sätzen zum Ausdruck kommt, wie: „Du warst so schön, dass du vollkommen gelassen hässlich sein konntest.“ In anderen Rezensionen wird zudem das im Werk vermittelte Stück Zeitgeschichte erwähnt, die etwa in der folgenden Passage zum Ausdruck kommt:
Fest steht: Wir waren jung. Es hatte gerade eine Revolution gegeben. Die Berliner Mauer, ja sämtliche Grenzen waren ein paar Jahre zuvor gefallen. Es herrschte Freiheit, wie es damals hieß, die Welt stand uns offen. […] Trotzdem schien es, als wollten alle meine Freunde, mich eingeschlossen, sterben. Mit großer Geste zugrunde gehen– oder wenigstens das Land verlassen. So stellten wir uns das vor. (Für die meisten Menschen in unserem Alter war es üblich, das neue, große, wiedervereinte Deutschland abzulehnen.) Aber wahrscheinlich hatte es gar nichts mit Politik zu tun. Wir waren uns sicher, die Existenz ist ein düsterer Ort. Sie verlangte nach stummer, poetischer Revolte.
Es geht um ein Paar, das sich noch in der ehemaligen DDR kennenlernte und dreißig Jahre zusammenblieb, verkörpert durch eine namenlose Ich-Erzählerin und Schriftstellerin und ihren etwa gleichaltigen Mann, einen Event-Manager kultureller und akademischer Veranstaltungen, den sie vom Studium kennt. Auf den ersten Blick scheint die Herkunft der Protagonist*innen, ob aus dem Osten oder Westen, irrelevant. Das erweist sich aber schon bald als Trugschluss. Immer, wenn man glaubt, das Werk verstanden zu haben oder einordnen zu können, liest man diese nur so scheinbar enpassant gemachten Beobachtungen der Erzählerin, etwa in Bezug auf die Folgen der Wende innerhalb der Generationen:
In gewisser Weise lebten wir zu jener Zeit tatsächlich herkunftslos. Es gab keine Eltern mehr. Sie waren am Leben, aber was wir von ihnen gelernt hatten, war nichts, das uns in der neuen, der freien Welt von Nutzen gewesen wäre. […] Mit bewundernder Anerkennung verfolgten sie unser Weggehen. Sie selbst würden keine Sprachen mehr lernen oder noch mal studieren. Sie absolvierten Umschulungen, die ihnen verordnet worden waren. Sie triumphierten im Stillen, dass sie das westliche System in seinem Kern durchschauten. […] Aber diese Art von Durchblick war nichts, das einem im täglichen Leben weiterhalf.
Es sind diese auf den ersten Blick so leicht daherkommenden Sätze, die unglaublich tiefe Einsichten geben, gerade auch in die Unterschiede der Generationen, etwa, wenn sie fortfährt:
Es sollte noch eine ganze Weile dauern, Jahrzehnte, bis sich unsere Sicht auf unsere Eltern änderte. Ich weiß nicht genau, wann es angefangen hat, ob vor der Geburt der Kinder oder erst danach, aber irgendwann beneideten wir sie. Wir beneideten sie um ihre Freizeit, die andauernden Reisen, die ständigen Unternehmungen, ihr abwechslungsreiches, chilliges Leben.
Die Erzählerin spricht von dem Bruch in ihrem Leben, der ihnen Schwung gebracht hatte und sie schließlich von dem neuen System profitieren ließ, „auch wenn sie ihm ihr Leben lang kritisch gegenüberstehen“ würden. Immer wieder ist es ein kluges Abwägen von Gedanken und Durchspielen von Assoziationen, etwa dabei, was für oder gegen eine Beziehung spricht. Alles erscheint fluide, gerade auch jede nur vermeintliche Erkenntnis. Am Anfang vermeint die/der Leser*in, eine beinahe sadistische Lust an der Erzählung einer Trennung oder Entfremdungsgeschichte eines Paares seitens der Autorin zu bemerken. Schon bald dreht sich die Geschichte um und die, die sich entscheiden soll, wird in den Sog des Nicht-zu-Entscheidenden hineingezogen, wobei sie ständig ihre eigene Rolle hinterfragt. Es ist eine Geschichte, in der sich nicht nur die „Jahreszeiten einer Beziehung” ändern, sondern auch die Personen selbst hinsichtlich ihrer Ansichten, Empfindungen, Bedürfnisse, Wünsche oder Ängste, frei nach dem Brecht-Gedicht Komm mit mir nach Georgia: „Und sieh deine Ansichten und sieh sie sind alt, erinnere dich, wie gut sie einst waren. Jetzt betrachte sie nicht mit deinem Herzen, sondern kalt und sage, sie sind alt.“ (nachdem dies in den ersten beiden Strophen schon für den Mann und die Frau eingefordert worden war).
Der Wechsel der Einstellungen wird ganz besonders im Alltag der Beziehung deutlich, etwa wenn das Paar Kinder bekommt, ohne dass den Kindern in ihrer Eigenexistenz im Roman besondere Beachtung geschenkt würde. Sie werden zwar durchaus häufig genannt – von ihnen vor allem in Bezug zur Beziehung der beiden Eltern erzählt –, aber ohne dass sie etwa benannt würden. Es mag durchaus auch, aber nicht ausschließlich mit dem Schutz der Kinder zu tun haben. Vielleicht wollte die Erzählerin auf diese Weise die „Schamlosigkeit” von Autor*innen im Benennen von Figuren vermeiden, wovon sie an einer anderen Stelle spricht. Auf jeden Fall ändert der Alltag mit den Kindern die Beziehung der beiden Liebenden grundlegend: „Nach und nach ersetzte die Körperlichkeit mit den Kindern die Körperlichkeit zu dir.“
Das Werk lässt sich auch als ein großer Roman über das langsame Verstummen einer Liebe und das Hinterherwerfen von nachträglichen Zukünftigkeiten im Sinne Benjamins lesen, als etwas, das in der Vergangenheit noch Zukunft gewesen ist. Das charakterisiert eine tragikomische Geschichte, die inhaltlich an Erich Kästners berühmtes Gedicht Sachliche Romanze erinnert: über eine Frau und einen Mann, die nach vielen Jahren kaum noch eine Gemeinsamkeit haben. Besonders auf die Spitze getrieben, wird das an der Stelle, an der sie akribisch „vorrechnet”, was sie alles hinter sich haben: 42 Reisen, vier Küchen, sechs verschieden Autos, 924 Halma-Partien, 8667 Schulbrote, 41 Geburtstagstorten, u. ä. Die Protagonistin entschließt sich zunächst für die Trennung.
Im Grunde ist es ganz einfach: Ich verlasse dich. Drei Wörter, die jeder Mensch begreift. Es genügen drei Wörter, und alles ist getan. Man muss sie bloß aussprechen. Ich bin erstaunt, dass es so einfach ist. Und noch etwas erstaunt mich: Der Satz ist genauso kurz wie der, den ich am Anfang unserer Geschichte gesagt habe. Am Anfang habe ich zu dir gesagt: Ich liebe dich. Drei Wörter am Anfang, drei Wörter am Ende. Wie es aussieht, lässt sich das Wichtigste im Leben mit sehr wenigen Wörtern sagen.
Wie man das macht oder auch nicht, das wird im Roman in vielen sprachlichen Varianten durchgespielt. Dabei fällt nicht zuletzt, für einen Roman oder einen literarischen Text eigentlich ungebräuchlich, der häufige Gebrauch der Klammer auf, womit Äußerungen relativiert oder zurückgenommen werden, wie etwa: „(Diese Erzählung erscheint mir wie die Zusammenfassung eines Films, den ich vor sehr langer Zeit und auf einem sehr alten Fernsehgerät gesehen habe. Ich kann nur einzelne Szenen wiedergeben, während mir die Gesamtdramaturgie entfallen ist.)“
Insgesamt darf man dem neuen Werk von Julia Schoch, das schon in der zweiten Auflage erschien, ein breites Lesepublikum wünschen, was sie vor allem durch die perfekte Darstellung eines zögernden Herantastens an das vorgegebene Ziel auch mit ziemlicher Sicherheit erreichen wird. Vielleicht hat schließlich für die Trennung oder Nicht-Trennung Ausschlag gegeben, dass es keine Variante zu ihrer Geschichte gab, denn: „Dann, plötzlich, bist du nicht mehr gekommen. Ich machte mir Sorgen. Nicht so sehr um dich. Ich machte mir Sorgen um unsere Geschichte. Schließlich war es eine Liebesgeschichte. Um solche Geschichten muss man sich ganz besonders kümmern, sagte ich mir, vor allem, wenn sie gerade erst beginnen.“ Den Lorbeer des Liebespaars des Jahrhunderts erhält plötzlich dasjenige, welches es schafft, sich seine Geschichte am besten zu erzählen. Das dies der Autorin in Gestalt der Erzählerin bestens gelungen ist, darüber gibt es kaum einen Zweifel, was das Buch uneingeschränkt erzählenswert macht.
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