Bachmann-Preis 2023 – Tag 2
Der zweite Lesetag präsentiert unterschiedliche Textsorten, auch wenn sich Themen überschneiden
Von Bozena Badura
Nachdem wenige Tage vor dem Beginn der Tage der deutschsprachigen Literatur mit Helena Adler und Robert Prosser zwei Teilnehmer*innen ihre Teilnahme am Wettbewerb kurzfristig abgesagt haben, gab es auch am zweiten Tag nur vier (statt wie gewöhnlich fünf) vorgetragene Texte. Dennoch schien der Tag nicht weniger intensiv zu sein.
Den Vorlesetag begann Sophie Klieeisen, die ihren Text Taube Früchte in Klagenfurt auf Einladung von Philipp Tingler vorgelesen hat. Der Text arbeitet stark mit historischen Tatsachen und greift sowohl auf authentische Personen als auch fiktive Figuren zurück. Er schildert die Eröffnungsfeier eines Neubaus, der an Stelle des marode gewordenen Palastes der Republik erbaut wurde. Der Ich-Erzähler, der sich im Verlauf des Textes als ein aus dem Metier zurückgezogener Journalist zu erkennen gibt, beobachtet kritisch die Ansammlung der eingeladenen Gäste sowie die herrschende Gruppendynamik zwischen den Politiker*innen, den Vertreter*innen der Kultur und der Presseleute, die aneinander mit vorgetäuschter Höflichkeit begegnen. Das Fest entpuppt sich als ein ununterbrochener Kampf um Aufmerksamkeit und Rampenlicht. Dabei schweifen der Blick und die Gedanken des Ich-Erzählers immer wieder auf Greta, eine Teufelsfigur, die auf die Anwesenden eine magische Anziehungskraft auszuüben scheint.
Zunächst konzentrierte sich die Diskussion der Jurymitglieder auf die formale Gestaltung des Textes und auf die Frage, inwieweit der Text Züge einer Reportage aufweise. So lobte Thomas Strässle die Klarheit der Figuren und die gute Beobachtungsgabe bezüglich der auf solchen Events herrschenden Gruppendynamik. Klaus Kastberger übertrug einige der im Text beobachteten Verhaltensweisen sogar auf die Feier innerhalb des Literaturbetriebs. Für ihn bleibt allerdings Vieles nur auf der Andeutungsebene, sodass der Text eine Kontextualisierung verlangt, um durchdrungen werden zu können. Erst in der Mitte des Gesprächs schaltete sich Philipp Tingler ein und bemängelte die Diskussion um die Etiketten. Für ihn handle es sich um die Gattung der „Gesellschaftsprosa“, die die Gesellschaft und ihre Strukturen beobachtet – und in diesem Fall zeigt, wie sich das Mittelmaß und unfähige Menschen ins Rampenlicht drängen. Nun verlagerte sich die Diskussion auf die Strukturebene des Textes und auf die Gegensetzte, wie z.B. Greta vs. Grabowski, Alt vs. Neu, Geschichte vs. Zukunft. Zusammenfassend lässt sich beobachten, dass in der Diskussion formale Kriterien dominierten. Obwohl es ein spürbares Interesse der Jurorinnen und Juroren an dem Text gab, gelang es ihnen nicht, die äußere Gestaltungebene des Textes zu verlassen, um sich eingehend den inhaltlichen, sprachlichen und ästhetischen Aspekten zu widmen.
In der sechsten Lesung des Wettbewerbs stellte Martin Piekar, der auf Einladung von Klaus Kastberger nach Klagenfurt gereist ist, seinen Text Mit Wänden sprechen/Pole sind schwierige Volk vor. Es handelt sich um eine schwierige, durch fehlende Kommunikation geprägte Beziehung zwischen einem minderjährigen Sohn und seiner alkoholsüchtigen Mutter, die aufgrund des Mangels an Gesprächspartnern ununterbrochen laut mit sich selbst und mit den eigenen vier Wänden spricht. Der Sohn, durch die ganze Situation überfordert, flieht ins Computerspielen, laute Musik und Dichtung. Es handelt sich hierbei um eine Out-of-Age-Geschichte und zugleich um eine Entwicklungsgeschichte zum Dichter, wobei alles unter erschwerten Bedingungen verläuft: Migrationshintergrund, Armut, alleinerziehende und überforderte Mutter. Das, was zu Beginn als eine „nächste“ Migrationsgeschichte beginnt, entpuppt sich schnell zu einer dynamischen Performance in den drei Sprachen Deutsch, Polnisch und Englisch. So konnte das Publikum eine einzigartige Performance erleben. Zu hören war nicht nur das gebrochene Deutsch mit polnischen Einschüben der Mutter, sondern auch die zahnlose Oma und jede Menge Musik, wobei sich die Musik stets als (teilweise Trost spendender) Kommentar zu den jeweiligen Gesprächen und beschriebenen Situationen erkennen ließ.
Gleichermaßen begeistert von dieser Performance zeigte sich die Jury. Insa Wilke lobte die räumliche Komposition des Textes: Er beginnt mit einer Beschreibung des Flurs, also eines engen Durchgangsraumes, die später auf die kleine Wohnung und hinterher auf eine größere Wohnung ausgeweitet wird. Es wurde lange über die Funktion der im Text eingeschobenen Pflegetipps gesprochen. Wie Mithu Sanyal verriet, wurde auch ihr dieser Text zugeschickt. Er schaffte es dann in ihre engere Auswahl, wurde aber aufgrund dieser Pflegetipps letztendlich nicht nominiert. Für Insa Wilke, und dieser Meinung schließen sich auch einige weitere Jurymitglieder an, haben diese Pflegetipps eine Funktion der Unterbrechung. Sie sollen den Text verlangsamen und dem Leser eine kurze Atempause verschaffen. Mara Delius lobte die Vielfalt der Stimmen dieses Textes und verriet, dass sie auch einige Kritikpunkte an dem Text aufzuweisen hätte, allerdings würde dies gleich sicherlich auch Philipp Tingler anmerken. Das geschah auch: Philipp Tingler fand den Text banal in seinen Formulierungen, zum Teil auch im Inhalt. Weiter entzündete sich die Diskussion um den bei der Performance durch einen Schrei markierten Wendepunkt des Textes. Anschließend brachte Philipp Tingler in die Diskussion eine – in meinen Augen auch zunehmend wichtige – Frage nach dem Umgang mit Texten, die erst durch eine performative Komponente ihr ganzes Potential entfalten. Müsse das nicht schon in der auf Papier verfassten Version so geschehen?
Der dritte Text des Tages namens Zeitmaschine stammte von Jacinta Nandi, die auf Einladung von Mithu Sanyal las. Es handelte sich um einen in lakonischer Stimme gehaltenen Text, der sich um die Themen Mutterschaft, Erziehung, überfordernde Mutterschaft und häusliche Gewalt drehte. Die Ich-Erzählerin, Ehefrau und Mutter eines kleinen Jungen, gewährt einen Einblick in ihren Alltag. Es werden Gespräche, Szenen, zum Teil messerscharfe Beobachtungen geschildert – teils aus der Perspektive einer Zugewanderten. Ihren Auftritt beendet die Autorin mit einem Aufruf, es möge nächstes Jahr eine Kinderbetreuung geben, sodass auch alleinerziehende Schreibende an dem Wettbewerb teilnehmen könnten.
Die Diskussion begann erneut mit einer Einordnung in die Literaturgeschichte. Mara Delius beobachtete, dass in dem Text der Topos der Mutterschaft zu finden sei, der zwischen Selbst- und Fremdbestimmung oszilliere. Thomas Strässle genoss den schwarzen Humor, unter dem sich allerdings ein tragischer Kern des Textes befindet, und zwar die Darstellung einer Gewaltbeziehung. Außerdem gelobt wurden die Dynamik, die flotten und echt anmutenden Dialoge sowie die Art und Weise, wie fein das Kind in die Gewaltsituation eingearbeitet wurde (Brigitte Schwens-Harrant). Insa Wilke schlug eine Genrezuordnung des Textes als „politische Comedy“ vor. Gewürdigt wurde auch die neue Perspektive auf die Verarbeitung des Themas Gewalt in der Beziehung. Die Diskussion wurde gegen Ende auch bei diesem Text auf die Grundvoraussetzungen der Literaturkritik gerichtet, und zwar mit der Frage, ob die Kritik ihre Kriterien aus den Texten selbst beziehen solle, oder ob es nicht universale Kriterien der Kritik gebe, mit denen man alle Texte besprechen könnte – unabhängig von Genre und Thematik.
Den Tag beendete die Lesung von Anna Felnhofer, die mit ihrem Text fische fangen auf Einladung von Brigitte Schwens-Harrant die Jury restlos begeisterte. Auch in diesem Text wird eine Beziehung zwischen einem minderjährigen Sohn und der alkoholsüchtigen Mutter beschrieben, doch dieser Text verfolgt einen ganz anderen Ansatz als sein Vorgänger. Bei diesem Text handelt es sich um einen Gewaltakt, der an dem Protagonisten verübt wird. Der Junge leidet nämlich (wahrscheinlich) aufgrund der trinkenden Mutter an einer Art von Opfersyndrom und mangelndem Selbstbewusstsein. Dies wird im Text jedoch nicht explizit benannt, sondern in Zwischentönen angedeutet, durch die Metapher des Fisches verbildlicht und sanft in den Text eingepflegt.
Hörte man der Diskussion der Jury aufmerksam zu, ließe sich die Behauptung aufstellen, es handle sich hierbei um den „typischen“ Bachmann-Preis-Gewinnertext. Die Jury beleuchtete die Handlung und ging sehr schnell zu den ästhetischen Aspekten des Textes über. Man suchte nach metaphorischen Deutungen des Textes – z.B. „Gewalt als Erkenntnis“ – und zog Parallelen zu der Klagenfurter Rede, die dieses Jahr von Tanja Maljartschuk gehalten wurde. Schließlich wurde unter der Oberfläche der Erzählung ein komplexes psychologisches Phänomen vermutet und die Jury gestand, man könne über diesen Text noch weitere drei Stunden diskutieren. Betrachtet man diese Begeisterung, dann konnten wir mit fische fangen also heute einen der bisher stärksten Favoriten des Wettbewerbs erlebt haben.
Die Texte des zweiten Wettbewerbstages fielen sehr unterschiedlich aus, auch wenn sie thematisch – trinkende Mütter, Gewalt, Mutter-Kind-Beziehung allgemein – nicht weit voneinander entfernt liegen. Das Publikum konnte heute außerdem erleben, wie eine Spoken-Word-Performance den Text zu bereichern vermag und wie sich unter scheinbar banalen Textstellen große Gedanken verbergen können. Bezüglich der Jurydiskussion ließ sich feststellen, dass (gefühlt) die meiste Diskussionszeit Fragen nach der Gattungszuordnung oder Fragen nach der Zugänglichkeit und Klarheit von Texten sowie Fragen nach der Aushandlung von Grundsätzen der Literaturkritik gewidmet wurde.
Morgen erwarten uns noch die letzten vier Kandidat*innen. Dann werden alle Texte vorgelesen sein. Ab morgen Nachmittag werden schließlich alle Karten auf dem Tisch liegen und dann wird frei spekuliert, welche Texte es verdient haben, am Sonntag ausgezeichnet zu werden.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen