Kein umfangreiches Werk, aber etwas Unvergleichbares geschaffen
Zum 100. Geburtstag der polnischen Lyrikerin Wisława Szymborska
Von Manfred Orlick
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie 1923 geborene Lyrikerin Wisława Szymborska gehörte zu den herausragendsten und originellsten VertreterInnen der polnischen Nachkriegsdichtung. Nach ihren männlichen Schriftstellerkollegen Henryk Sienkiewicz (1905), Władysław Reymont (1924) und Czesław Miłosz (1980) war sie 1996 die vierte Literaturnobelpreisträgerin ihres Landes, wo ihre Gedichte zur Nationalliteratur gerechnet werden und in die Schullektüre eingegangen sind. Ihr Werk umfasst dreizehn kurze Gedichtbände; daneben Kinderverse, Antworten auf Leserbriefe, Rezensionen und Übersetzungen aus dem Französischen; auch als Herausgeberin und Illustratorin war sie tätig. Ihr schmales Werk von rund 350 Gedichten fand – vor allem nach der Preisverleihung – eine starke internationale Verbreitung und wurde in mehr als vierzig Sprachen übersetzt.
Über ihre Biografie sind außer einigen Eckdaten nur wenige Einzelheiten bekannt, da die stets zurückgezogene Dichterin ihr Privatleben weitgehend vor der Öffentlichkeit verborgen hielt und konsequent Interviews mit Journalisten vermied. Wisława Szymborska wurde am 2. Juli 1923 in Prowent geboren, das heute Teil von Kórnik ist und im Westen von Polen liegt. Im Jahre 1931 übersiedelte die Familie (mit ihrer älteren Schwester Nawoja (1917-1997)) nach Krakau. Die Stadt an der Weichsel sollte ihr ständiger Lebensmittelpunkt werden. Fünf Jahre später verstarb ihr Vater; es war der erste tiefe Einschnitt in ihrem Leben. In Krakau besuchte sie die Grundschule und das elitäre Mädchengymnasium der Ursulinen. Während des Krieges war ein Studium unmöglich; sie arbeitete als Bahnangestellte, um der Abschiebung in ein deutsches Arbeitslager zu entgehen.
Von 1945 bis 1948 studierte Szymborska polnische Philologie und Soziologie an der Krakauer Jagiellonen-Universität, jedoch ohne Abschluss, da sie das Studium nicht mehr finanzieren konnte. Sie fand eine Anstellung als Sekretärin und heiratete den Literaten und Chefredakteur Adam Włodek (1922–1986). Doch nach wenigen Jahren ließ sich das Paar wieder scheiden, blieb aber bis zu seinem Tod freundschaftlich verbunden. Ihr literarisches Debüt hatte Szymborska im März 1945 mit der Veröffentlichung eines Gedichts in der Kulturbeilage einer Krakauer Zeitschrift. Ihre beiden ersten Gedichtbände Dlatego żyjemy (1952, dt. Deshalb leben wir) und Pytania zadawane sobie (1954, dt. Fragen die ich mir stelle) waren noch am Sozialistischen Realismus ausgerichtet. Später distanzierte sich Szymborska von diesen frühen Gedichten und nahm nur wenige von ihnen in spätere Sammlungen auf. Sie trat der Polnischen Arbeiterpartei bei und wurde in den polnischen Schriftstellerverband aufgenommen. Von 1953 bis 1981 war sie ständige Mitarbeiterin der Zeitschrift Zycie Literackie (dt. Literarisches Leben), wo sie für den literarischen Teil verantwortlich war, Feuilletons und Rezensionen schrieb sowie Leserbriefe beantwortete.
Mit ihrem Band Wołanie do Yeti (1957, dt. Rufe an Yeti) fand sie nicht nur ihre eigene poetische Ausdrucksform, sondern auch erstmals größere Beachtung, in Polen wie im Ausland. Mit dem Gedichtband Sól (1962, dt. Salz) und der Übertragung (1973) von Karl Dedecius (1921–2016) wurde Szymborska dann auch in Deutschland bekannt. Dedecius, der sich über Jahrzehnte als Übersetzer und Herausgeber polnischer Lyrik Verdienste erwarb, übersetzte auch die folgenden Bände der Dichterin, deren Poesie er bewunderte: Sie „nimmt an Weisheit zu und verwundert uns, die Leser ständig, mit jedem Gedicht, stets aufs Neue.“
Nach einer fünfjährigen Pause erschien der Sammelband Sto pociech (dt. Hundert Freuden), in dem sie die „großen“ Anliegen der Menschheit zur Sprache brachte, in ihrer Zurückhaltung jedoch nur „kleine“, aber nachdenkliche Antworten lieferte. In den 1970er Jahren folgten die beiden Gedichtbände Wszelki wypadek (1972, dt. Alle Fälle) und Wielka liczba (1976, dt. Die große Zahl), in denen sich philosophische Fragestellungen hinter alltäglichen Beobachtungen und Lebenssituationen verbergen.
Nachdem die polnische Regierung unter Wojciech Jaruzelski am 13. Dezember 1981 das Kriegsrecht ausgerufen hatte, gehörte Szymborska, die bereits 1966 aus der Partei ausgetreten war, dem literarischen Untergrund Krakaus an. Als Reaktion beendete sie ihre Redaktionstätigkeit in Literarisches Leben. Fortan publizierte sie in Untergrundzeitungen wie der Krakauer Zeitschrift Pismo (dt. Schreiben) und der Breslauer Monatsschrift Odra. In ihrem Gedichtband Ludzie na moście (1986, dt. Menschen auf einer Brücke) nahm sie zu der politischen Situation in ihrem Land nur in Anspielungen Stellung. Trotzdem wurde der Band von der Kritik zu ihrem besten Buch erklärt. Die polnische Gewerkschaft Solidarność verlieh Szymborska ihren Literaturpreis. Anfang der 1990er Jahre erhielt sie in Deutschland wichtige Auszeichnungen: So ehrte die Stadt Frankfurt am Main die „große Humanistin Europas“ mit ihrem Goethe-Preis; 1995 erhielt sie den Herder-Preis der Alfred Toepfer Stiftung. 1996 wurde Szymborska dann mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet – für ihre „Poetik, welche mit ironischer Präzision den historischen und biologischen Zusammenhang in Fragmenten menschlicher Wirklichkeit hervortreten läßt“, wie es in der Begründung des Nobelpreiskomitees hieß. Die bereits 73-jährige Dichterin selbst war von der Entscheidung der Schwedischen Akademie nicht weniger überrascht als die literarische Welt.
Schweigend stand die öffentlichkeitsscheue Szymborska mehrere Jahre lang in dem Weltruhm, der sie nun umgab. Sie teilte ihr Leben später in zwei Abschnitte ein: „vor der Nobel-Tragödie und nach der Nobel-Tragödie“. Erst 2002 und 2005 erschienen mit Chwila (dt. Augenblick) und Dwukropek (dt. Doppelpunkt) ihre nächsten Gedichtbände, die noch einmal die Themen ihrer früheren Gedichte aufgriffen. Allein die persönliche Auseinandersetzung mit dem Tod erhielt nun ein stärkeres Gewicht. Trotzdem ist es keine pessimistische Lyrik, vielmehr sind die Gedichte eine universelle, zeitlose Botschaft. Nach Tutaj (2009, dt. Hier) arbeitete Szymborska an ihrem letzten Gedichtband Wystarczy (dt. Es ist genug), der postum erschien. In den dreizehn Gedichten zeigte sie noch einmal ihr unermüdliches Interesse an der sich ständig verändernden Welt, den Geheimnissen und Ängsten, die das Leben begleiten. Der Titel des Gedichtbandes passte zur Selbstironie der Dichterin. Wisława Szymborska starb am 1. Februar 2012 – zurückgezogen und in aller Stille. Auch im Tod legte sie Wert auf ihre Privatsphäre; nach ihrem Willen fand sie ihre letzte Ruhestätte nicht in der St.-Peter-und-Paul-Kirche der Wawelburg, sondern im Familiengrab auf dem Krakauer Rakowicki-Friedhof.
Die deutschen Übertragungen der sensiblen wie hintergründigen Gedichte von Wisława Szymborska erschienen seit einem halben Jahrhundert fast ausschließlich im Suhrkamp Verlag. Zum 100. Geburtstag der Dichterin hat der Verlag nun zwei Jubiläumsbände vorgelegt. Der Band Gesammelte Gedichte präsentiert mit rund 250 Gedichten eine umfangreiche Auswahl aus ihrem lyrischen Gesamtwerk. Es sind sämtliche auf Deutsch erschienenen Gedichte: von den ersten veröffentlichten Gedichten aus dem Jahre 1945 bis zum letzten Gedichtband, den die Dichterin kurz vor ihrem Tod noch zusammenstellte. Außerdem wurden einige bisher unveröffentlichte Gedichte übernommen, die erstmals ins Deutsche übertragen wurden.
Szymborska gehörte zwar zu der Generation polnischer DichterInnen, die den Überfall Hitler-Deutschlands auf Polen, nach 1945 den Kommunismus sowjetischer Prägung und in den 1980er Jahren den Zerfall des sozialistischen Systems erlebt hatten, doch sie war keine Poetin des politischen Geschehens. Ihre Gedichte kreisten um die großen Themen wie Liebe, Leben, Tod oder Vergangenheit. Dabei benutzte sie in ihren Versen meist einfache und alltägliche Bilder, mit denen sie ihr Staunen über die Welt ausdrückte, wobei sie häufig philosophische und nachdenkliche Töne anschlug. Jedes Gedicht überrascht durch eine ganz eigene Poetik. Szymborska hatte ihren eigenen, ruhigen Rhythmus (gänzlich ohne Eile) gefunden, stets auf sprachliche Experimente verzichtet und häufig Anleihe bei der Umgangssprache gesucht: „Nimm mir nicht übel, Sprache, dass ich pathetische Worte entlehne / und mir dann Mühe gebe, sie leicht erscheinen zu lassen.“ Mit ihrem lyrischen Ich ging sie dagegen oft ironisch und augenzwinkernd um („Gestern betrug ich mich schlecht im Kosmos. Den ganzen Tag lebte ich, ohne zu fragen, ohne mich über etwas zu wundern.“) Was bleibt von ihrem Werk? Ihre Hoffnung war: „Im besten Fall wirst du, mein Gedicht, aufmerksam gelesen, kommentiert und in Erinnerung behalten.“
Als Redakteurin der Wochenzeitschrift Literarisches Leben widmete sich Szymborska auch den Anliegen des literarischen Nachwuchses. Sie beantwortete Fragen von angehenden AutorInnen, beurteilte eingereichte Manuskripte und gab ihnen Ratschläge für die zukünftige Arbeit. Der Suhrkamp-Band Sie sollten dringend den Kugelschreiber wechseln versammelt eine Auswahl der Kolumne Literarischer Briefkasten, für die sie im Wechsel mit dem Autor und Kritiker Włodzimierz Maciąg (1925-2012) verantwortlich war. Dabei hatte Szymborska auch den Mut, literarischen Anfängern die nicht immer leichte Wahrheit von einem fehlenden Talent zu sagen, was sie häufig mit Ironie und spitzer Feder tat. Dabei war sie sich durchaus bewusst, dass sie selbst „mit schlechten Gedichten und schlechten Erzählungen“ angefangen hatte.
Dem schreibenden Nachwuchs empfahl Szymborska Hartnäckigkeit, Fleiß, Belesenheit oder Beobachtungsgabe, mitunter ein neues Schreibgerät oder einen regelmäßigen Blick in die Grammatik („Sie fragen in Versform, ob das Leben Sin hat. Das orthographische Wörterbuch sagt nein.“ Oder: „Sollte es in der Orthographie Änderungen zu Ihren Gunsten geben, werden wir Sie auf dem Laufenden halten.“) Manchmal regte sie an, den geschriebenen Text mehrfach zu überarbeiten: „Wir möchten daran erinnern, dass Tschechow seine Texte siebenmal überarbeitete und Thomas Mann die seinen fünfmal korrigierte.“ Es waren meist Liebesverse („Aus den eingesandten Gedichten konnten wir den Schluss ziehen, dass Sie verliebt sind. Jemand hat einmal gesagt, alle Verliebten seien Dichter.“), die in der Redaktion eingingen; da war es schon ein Glücksfall, wenn eine Science-Fiction-Geschichte den Literarischen Briefkasten erreichte: „Was für eine Erholung nach der Lektüre von vierhundert gleichartigen Herbstgedichten!“ Und immer wieder bittet sie darum, „wenigstens ein Stündchen über einem leeren Blatt Papier nachzudenken. Eine gänzlich neue, außergewöhnliche Erfahrung sei das.“
Welch hohe Anforderungen Szymborska an ihre lyrischen Arbeiten selbst stellte, äußerte sie in einem Vortrag, den sie am 7. Dezember 1996 in der Schwedischen Akademie hielt:
In der Sprache der Poesie, wo jedes Wort gewogen wird, ist nichts gewöhnlich, nichts normal. Nicht ein einziger Stein, nicht eine einzige Wolke darüber. Nicht ein einziger Tag, nicht eine einzige Nacht die ihm folgt. Und über all dem nicht eine einzige Existenz, nicht die Existenz eines einzigen auf dieser Welt.
Es scheint so, als würden die Dichter immer viel zu tun haben.
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