Ni dieu, nie maitre

Richard Rorty plädiert für die Selbstverantwortung von Menschen: ein radikaler Ansatz und ein radikales Projekt

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wir leben in Zeiten, die offensichtlich vom Autoritären fasziniert sind, seien sie politischer, religiöser, rechtlicher oder eben auch wissenschaftlicher Art. Sich einer unbeeinflussbaren, unbeugbaren Autorität beugen zu können, hat dabei ungemein entlastende Wirkungen: Es entlastet vom eigenen Denken, vom eigenen Urteil, aber eben auch davon, sich mit anderen arrangieren zu müssen oder können, die anderen Autoritäten folgen. Die Wahrheit, das Gesetz, das Recht, auch die Autorität Gottes und selbst die Menschenrechte schweben über allem, und bedingen alles, was wir denken und tun können.

Bevor es weitergeht, ein Disclaimer: Der folgende Absatz ist ein provokatives Exempel, das nicht die Haltung des Verfassers dieser Zeilen wiedergeben, sondern ein zugespitztes Argument vorstellen soll. 

Um ein vielleicht wenig populäres Beispiel zu wählen: Klimawandel? Ist wissenschaftlich bewiesen. Wer ihn leugnet, widerspricht der Wissenschaft. Wer nicht sieht, dass die Welt kurz vor dem Untergang steht, wenn nicht sofort grundlegend gehandelt wird, verweigert den Erkenntnissen, wenn nicht der Wahrheit der Wissenschaft die Gefolgschaft. Wie kann er oder sie?

Das wäre eine typische Argumentationskette, die innerhalb der Gesellschaft eine recht weite Verbreitung hat, in der sich aber im Wesentlichen kein diskursiver, sondern ein autoritärer Ansatz zeigt. Dasselbe lässt sich mit rassistischen, kulturellen, religiösen, nationalen, politischen oder anderen gesellschaftlichen Reizthemen (Corona, Flat Earth, Sexualerziehung, Geschlecht oder was auch immer) formulieren, und das auch noch in beide Richtungen, also mit der Berufung auf jedwede Autorität, die dann für jedes beliebige Thema und dessen Auslegung herhalten kann.

Autoritätshörigkeit – verallgemeinernd gesagt – lässt sich mithin nicht nur in konservativen oder hierarchisch strukturierten Gruppen finden, was der Kritik des orthodoxen Marxismus lange schon gewärtig ist. Aber selbst dabei ist nicht stehen zu bleiben. Autoritätsgläubigkeit ist ubiquitär. In der modernen Gesellschaft ist beinahe nichts und niemand davon verschont.

Das heißt aber – und hier steigen wir in die Argumentation der Vorlesungen Richard Rortys ein, die jetzt bei Suhrkamp erschienen sind –, dass das Projekt Aufklärung, wie wir es bei Kant gelernt haben, immer noch nicht vollendet ist. „Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“, heißt es dort. Was eben auch bedeutet, sich nicht auf externe Autoritäten zu stützen, welcher Qualität auch immer. Was das angeht, hapert’s aber. Ein Attest, das, bei allen Erfolgen, die sie für die Ihren gezeitigt hat (was ihre desaströsen Katastrophen nur bedingt suspendiert), auch für die Moderne gilt.

Der Anspruch freilich, sich auf den eigenen Verstand zu verlassen, ist allerdings ein Wagnis, eben nicht nur, weil er fehl gehen kann (Flat Earth Theory, Rassismus, Faschismus, Corona-Leugner), sondern auch, weil er sich zumuten muss, sich zu dem, was vorgebliche Autoritären – Wissenschaft, Religion, Philosophie – dekretieren, zu verhalten. Und das mit gutem Grund, denn all diese Wissens- und Denksysteme sind vor allem sich selbst verpflichtet, ihren Regeln, ihrer Art zu fragen, ihrer Art zu antworten – um mit Rorty zu sprechen: Sie sind in sich geschlossene Sprachspiele, die konkurrierend nebeneinander stehen. Sie sind ideologische Systeme im weitesten Sinne, die auf einen externen Ursprung verweisen, um sich unangreifbar zu machen. Gott, die Wahrheit, sind unabdingbar. Der Unterschied zwischen dem Gesetz Gottes, der Unbedingtheit von Wahrheit und einem wissenschaftlichen Gesetz erschließt sich nur dem, der einem dieser drei Sprachspiele verpflichtet ist – und die anderen gehorchen dem eigenen eben nicht. Für den Gläubigen sind wissenschaftliche Wahrheiten nicht relevant. Et vice versa.

Das greift wunderbarerweise eben nicht nur die bekannten Autoritäten an, sondern im Wesentlichen alle derzeit kurrenten Ordnungssysteme und Handlungsleitlinien, die sich in einer fast beliebigen Matrix zwischen Religion, Philosophie, Wissenschaft, Recht oder Politik aufspannen lassen. In den Auseinandersetzungen etwa zwischen biologistischen Geschlechteransätzen, traditionellen Geschlechterrollen, feministischen Positionen der älteren Generationen und fluiden Gendertheorien konkurrieren mindestens vier verschiedene Denk-, Wahrnehmungs- und Darstellungsformen miteinander, die jede für sich den jeweils höheren Rechtsanspruch behaupten. Woke und traditionalistische Ansätze stehen nicht nur unversöhnlich einander gegenüber, sie behaupten je für sich, unbedingt wahr zu sein (was auch insofern zutrifft, dass sie den selbstgesetzten Regeln gehorchen). Solche Ansprüche können sich nicht arrangieren, bestenfalls klein beigeben, wie etwa der Alleinvertretungsanspruch von Religionen eigentlich keine Konkurrenzveranstaltung neben sich dulden kann, sich aber mittlerweile dazu bequemt hat – nur als Beispiel.

Rortys Grundüberlegung nun ist es, menschliche Gesellschaft auf sich selbst zu verpflichten und sie von allen externen Ansprüchen wie Wahrheit oder Sinn zu entlasten. Ihre Entwicklung und Ausgestaltung gehöre nicht in den Aufgabenbereich von Philosophie, Religion oder Wissenschaft, sondern in den der Politik. Wobei er unter Politik eben nicht das Regierungssystem und seine professionellen Akteure versteht, sondern den Modus, mit dem interpersonale Beziehungen ausgehandelt werden, die zum besseren gegenseitigen Verständnis und zur allseitigen Verbesserung der Lebensumstände führen sollen.

Sicher, damit kehrt unter der Hand ein genuin amerikanisches Grundprinzip in die Philosophie ein, das selbst wieder provokativ genug ist: Das Streben nach Glück ist ein definitiv diesseitiges Prinzip, das schnell in den viel geschmähten Materialismus übersetzt wird. Dabei steht dahinter eben auch das Prinzip, dem auch der Neo-Pragmatismus Rortys zuzurechnen ist: das Glück und die Zufriedenheit möglichst vieler nicht nur als Ziel, sondern als Grundprinzip gesellschaftlicher Ordnung.

Damit suspendiert er sämtliche Anspruchssysteme, die die Überlegenheit bestimmter sozialer Gruppen über andere grundieren, indem sie entweder exklusive Bestimmungsmerkmale einführen oder Suprematiebehauptungen ausformulieren, mit denen ihr Vorrang begründet werden kann.

Das reicht bis weit in das Selbstbild der liberalen Öffentlichkeit hinein, die sich mit selbstbezüglichen Ausstattungen versehen haben und sie zu allgemeinen Maßregeln erheben. Das Problem an dem Widerspruch zwischen den offenen, liberalen und geschlossenen, autoritären Systemen liegt – so Rorty – nicht daran, dass das eine an eine vernünftige Grundlage anschließt (nennen wir sie Menschenrechte), während das andere an diskreditive Suprematiebehauptungen andockt (etwa an die arische Herkunft), sondern darin, dass es letztlich keinen allgemeinen Maßstab gibt, mit dem sich eine der beiden ideologischen Systeme verwerfen, das andere aber mit gutem Recht wählen ließe. Ein Rassist und Antisemit hat denselben Wahrheitsanspruch wie ein Demokrat und Liberaler, so bitter sich das auch niederschreibt.

Wenn dem aber so ist, dann bleibt am Ende nur eine relativ große Selbstbescheidenheit, die lediglich den Anspruch erhebt, sich mit anderen arrangieren zu wollen, um den größtmöglichen Effekt für alle zu erreichen. Gerade im letzten Argument aber liegt die stärkste Provokation der Vorlesungen Rortys, die vielleicht als sein Vermächtnis angesehen werden können: die Autorität von Wahrheit abzuweisen und gesellschaftliche Praxis dem diskursiven Prozess von gesellschaftlichen Auseinandersetzungen auszusetzen. Damit gibt man, folgt man Rorty, eben nicht Realität auf, sondern stellt sich ihr in besonderem Maße. Die Einsicht, dass unsere Wahrheitssysteme Sprachspiele sind, führt eben nicht zum Relativismus, sondern zu der Aufgabe, sich zu arrangieren, möglichst viele in Gesellschaften zu integrieren und möglichst wenige auszuschließen (was Sprache freilich immer nahelegt, die Crux mit Begriffen eben).

Richard Rortys nun vorgelegtes, vorgeblich letztes Buch, das unter dem Titel Pragmatismus als Antiautoritarismus erscheint, geht auf Vorlesungen zurück, die Rorty Mitte der 1990er Jahre an der Universität Girona in Spanien gehalten hat. Die zehn Vorlesungen, die Rorty an fünf Tagen gehalten hat, sind bislang nicht in zusammenhängender Form, sondern nur verstreut erschienen. Die vorliegende Fassung greift deshalb auch in Teilen nicht auf ein Ursprungsmanuskript zurück, sondern auf spätere Fassungen (was jeweils einzeln notiert wird). Das mag in Einzelfällen die Anschlüsse schwieriger machen, bleibt aber unbedenklich. Denn innerhalb der Abschnitte begibt sich Rorty vor allem in diverse Scharmützel, bei denen es ihm um die Abgrenzung seiner theoretischen Annahmen zu denen anderer Philosophen seiner Zeit geht. Aber das ist angesichts der Radikalität, in der er seine These vertritt, hinnehmbar. Ob diese Thesen 25 Jahre nach ihrer Entstehung nun zu spät oder zur rechten Zeit kommen, wird sich noch zeigen, wenngleich verzögert. Denn sie sind vor allem Teil des philosophischen Diskurses, den Rorty zurück in die Gesellschaft lenken will. Was sie für eine breitere Wahrnehmung prädestiniert, ist der bodenständige Umgang Rortys mit dem philosophischen Sprachduktus, den er immer wieder unterläuft. Um nicht zu sagen, das kann man lesen.

Titelbild

Richard Rorty: Pragmatismus als Antiautoritarismus.
Aus dem Amerikanischen von Joachim Schulte.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023.
454 Seiten , 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783518587942

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