Killer, Geister und Kapitalisten

Kôtarô Isaka offeriert in „Suzukis Rache“ eine humanistisch-transzendente Kriminologie

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Isakas jüngster auf Deutsch erschienener Roman ist der erste Text des Autors, der sich der verborgenen Welt der japanischen Auftragskiller widmet. Bekannt wurde bei westlichen Rezipienten zunächst der 2010 veröffentlichte Band Bullet Train (jap. Titel Maria bîtoru/Marienkäfer; dt. 2022). Ihm ging die aktuelle, sich ausgezeichnet lesende Übersetzung, Suzukis Rache, im Original 2004 unter dem Titel Gurasu hoppā/Grashopper erschienen, voraus. Noch nicht übertragen wurde der dritte Teil der sogenannten „Killerreihe“, AX/Akkusu, aus dem Jahr 2017.

Ein Wechsel der Welt

Besagte „Rache“ beginnt mit dem Tod einer Frau. Sie starb bei einem Autounfall, und ihr Mann, Mathematiklehrer Suzuki, findet heraus, dass das Geschehen kein tragisches Unglück, sondern ein Mord mit Absicht war – anzulasten dem gewissenlosen Sohn von Gangsterboss Terahara. Suzuki gibt seine Stelle nebst bürgerlicher Existenz auf, um sich – radikalisiert durch den grausamen Verlust – in die mafiöse Organisation einzuschleusen.

Die Dinge nehmen eine unerwartete Wende, als Terahara Junior, der gerade eine Straße überqueren will, überfahren wird. Augenzeuge Suzuki soll nun, wie es ihm seine brancheninterne Einstiegstrainerin Hiyoko unter Androhung von Gewalt abverlangt, zur Auffindung desjenigen beitragen, der den Gangstersprössling offenbar auf die Fahrbahn gestoßen hat. Was als Racheplan begonnen hat, gerät ab diesem Zeitpunkt zu einem Trip durch Tôkyôs Unterwelt, voller Überraschungsmomente und merkwürdig-absurder Dialoge – der allwissende Erzähler gewährt dazu noch manchen Blick in die Gedanken seiner Akteure.

Während der ehemalige Lehrer, ein eher zögerlicher Mensch, dem ominösen „Pusher“ auf die Spur zu kommen trachtet, kreuzen sich seine Wege mehrfach mit denen von zwei weiteren berühmten Auftragskillern: „Wal“ und „Zikade“. Der geheimnisvolle Wal, ein düsterer, getriebener Charakter, der seine Opfer zwingt, Selbstmord zu begehen, wohnt im prekären Milieu der Obdachlosen. Zikade, ein notorisch unzufriedener Profikiller, ausgesetzt dem strengen Regime seines arglistigen Vermittlers Iwanishi, sticht bei entsprechendem Entgelt ganze Familien nieder. Im Rahmen der Erkundigungen erfährt Suzuki, dass jener Mann, von dem er annimmt, er sei der Mörder des jungen Terahara, Frau und Kinder hat. Als er die beiden kleinen Söhne kennenlernt, möchte der idealistische Protagonist verhindern, dass sie Bekanntschaft mit den Schwerkriminellen machen und schweigt eisern über die Identität des „Schubsers“.

Fassaden und Realitäten

Dem früheren Lehrer müssen trotz zur Schau gestellter Coolness die „Branche“ und ihre menschenverachtenden Praktiken fremdbleiben. Hat der angehende Gangster mittlerweile auch erfahren, wie sehr die Oberfläche der Gesellschaft trügt, behält er dennoch seine am Humanitären orientierte Haltung bei. Dass er sich unter gewerbsmäßige Betrüger, Diebe und Mörder mischt, liegt einzig und allein am Willen, den Tod seiner Frau nicht ungesühnt zu lassen. Zusehends stellt sich allerdings die Erkenntnis ein, dass sein Vorhaben falsch war. Je mehr er im Untergrund über die tatsächlichen Gegebenheiten Japans lernt, desto klarer erkennt er tiefe Abgründe. Suzukis Betreuerin Hiyoko informiert ihren Schützling über zentrale Geschäftszweige, zum Beispiel Drogenverkauf an naive Hinterwäldlerinnen, Organhandel oder das Bedienen voyeuristischer Begierden finsterster Art. Seinen naiven Einwand, dies sei legal nicht erlaubt, fegt die Frau mit dem Hinweis auf die Tiefenstrukturen des Systems hinweg: „Die Mächtigen bestimmen die Regeln.“

Japanische Kriminalromane legen den Fokus häufig auf gesellschaftliche und politische Verhältnisse, Kôtarô Isaka bildet hier keine Ausnahme. Ihm gelingt es jedoch auf höchst amüsante Art, das dunkle Japan, d.h. perfide Machtstrukturen, Missstände und den wachsenden Verdruss im Lande darzustellen. Vor allem die Killer wissen Bescheid: Politiker protegierten die landeseigene Mafia, die den Staatsdienern wiederum lästige Menschen vom Halse schaffe. Gelder würden stetig von unten nach oben durchgereicht, etwa wenn man bei Bankenrettungen die Steuern der Bürger einsetze, wahlweise die Rentenversicherung in dubiose Bauprojekte investiere. Hiyoko kommentiert die Sachlage in der vollen Tragweite:

Und trotzdem kommt dieses Pack, das unsere Gelder verschwendet, ungestraft davon. Sie werden nicht zur Rechenschaft gezogen, obwohl sie Milliarden, Billionen Steuergelder veruntreuen. Und obendrein kassieren sie noch eine fette Pension und können sich geruhsam aufs Altenteil setzen.

Die Mächtigen handeln, der Bürger hat keine Stimme

In zahlreichen Situationen wird es klar, dass die Personen, die sich im Besitz von Unabhängigkeit wähnen, nur Figuren in einem aussichtslosen Spiel sind. Eine mutige Journalistin, die gegen alle Widerstände Unliebsames aufdecken will, wird von Wal zum Schweigen gebracht. Der Killer belehrt sie zuvor:

Es gibt nur eine Realität. Du sitzt in diesem Zimmer und schreibst wimmernd deinen Abschiedsbrief, während ein feister Politiker mit einem Mädel an seiner Seite im Bett liegt und sich Pornos reinzieht. Nur das existiert wirklich. Dabei spielt es keine Rolle, was wir mögen und was wir hassen.

Die Maschinerie von Verschleierung und Unterdrückung läuft störungsfrei. Obwohl Vetternwirtschaft und Korruption an der Tagesordnung seien, dulde die Bürgerschaft die Verbrechen. Der kluge Mensch ahnt nämlich, wie schnell ein Sündenbock gefunden, wie rasch ein Leben ausgelöscht ist. Da bleibt den erfolgreich Entmutigten nichts anderes, als freiwillig auf die Freiheit zu verzichten und die brutalen Strukturen so weit wie möglich zu ignorieren, um überhaupt für die kurze Spanne ihrer Existenz auf der Erde zu einem Modus Vivendi zu gelangen.

Was vom Menschen bleibt

Isakas Blick auf ein Japan, das kaum mehr als Demokratie zu erkennen ist, wird begleitet von resignativen Überlegungen, u.a. auch von Suzuki, der sich an die Einsichten seines ehemaligen Mathematikprofessors erinnert. Besagter Akademiker vertrat die Auffassung, der Mensch ähnele in seinem kollektivistischen Verhalten teilweise stark Insekten, sei also eine Schwarmexistenz und über diesen unerfreulichen Umstand hinaus in zu großer Stückzahl auf der Erde vorzufinden. Das Thema des Insektoiden greift der Autor schon in der Namenswahl einiger Killer auf; der japanische Titel des Texts, Grashüpfer, der nie näher erklärt wird, spielt vermutlich auf Suzukis prospektiven Branchencode an. Eine andere Gruppierung, von der der Protagonist später erfährt, trägt häufig Namen aus der Flora, was auf die größeren Zusammenhänge hindeutet, die das Kriminalszenario unterfüttern.

In der Wahrnehmung der Killer wirken die ihnen potentiell Preisgegebenen zwangsläufig wie Ameisen oder Käfer. Aber auch Auftragsmörder Zikade, der sich, gegängelt vom Agenten, zeitweise wie eine „Marionette“ fühlt und sich – gleichsam in Hingabe an einen buddhistischen Quietismus – die Wiedergeburt als Muschel vorstellen kann, hadert mit seinem Schicksal, trotz letaler Handlungskompetenz nur ein Rädchen im verrohten kapitalistischen Getriebe zu sein. Den Blick auf das Marionettendasein eröffnete ihm nebenbei bemerkt, laut Isaka, ein französischer Autorenfilm zum Thema perfider Ausbeutung und Prekarität. Der dämonisch-melancholische Wal, vor dessen Augen immer öfter die Geister seiner „Selbstmörder“ auftauchen, liest gerne Fjodor Dostojewskis Verbrechen und Strafe (früher: Schuld und Sühne). Generell huldigt er einem gediegenen Fatalismus bis hin zu ausgeprägter Todessehnsucht – sie ist es, die der Suggestionsmörder stets so erfolgreich in seinen Opfern zu wecken vermag. Wals Geisterdialoge gehören zu den vielen ironisch unterlegten, skurrilen Szenen des Buchs, etwa wenn sich Kandidat Nummer 33, der von ihm in den Exitus beförderte korrekte Parteisekretär, freundlich bedankt, Chefpolitiker Kaji nun ebenfalls beseitigt zu haben. Der Dienstfertige freut sich, im Jenseits bald erneut vom korrupten Politiker beschäftigt zu werden.

Das lebendige Leben

Dass Suzuki am Ende des Abenteuers dem Milieu unbeschadet entkommt und – um viele Erfahrungen reicher – als Nachhilfelehrer an einem privaten Institut in sein angestammtes Berufsleben zurückkehren kann, liegt an einer gewissen, sicher unter anderem der akademischen Ausbildung zuzuschreibenden Zähigkeit sowie am hinreichenden Denkvermögen des sympathischen Helden. Andererseits zeichnet ihn ein Moment der Selbst-Transzendenz aus, d.h. er ist zur Empathie mit den Mitmenschen fähig. Indem er die Erinnerung an seine Frau wachhält, stellt er die geliebte Partnerin über eigene Belange. Sie war es, die ihn erstmals darin bestärkte, das Dasein in seiner ganzen Fülle zu genießen – „wie ein lebendiges Wesen“. Diese Imprägnierung beschützte ihn, als er zeitweise ein nicht geringes Risiko einging. Von nun an, legt der Autor abschließend nahe, bleibt Suzuki in einer Welt guter Geister.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Kotaro Isaka: Suzukis Rache. Thriller.
Aus dem Japanischen von Sabine Mangold.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2023.
320 Seiten, 24 EUR.
ISBN-13: 9783455015867

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