Die „Tage der deutschsprachigen Literatur“ 2023 in Klagenfurt

Ein Rückblick auf den diesjährigen Bachmannwettbewerb

Von Bozena BaduraRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bozena Badura

Die Tage der deutschsprachigen Literatur 2023 in Klagenfurt sollten eine Rückkehr zur Zeit vor der Pandemie bedeuten. So wurden erneut alle Texte im Studio nicht nur diskutiert, sondern auch vorgelesen. Wie die Jurymitglieder und das vor Ort anwesende Fachpublikum bemerkten, zeichneten sich viele diesjährige Texte durch ein gutes Niveau aus. Doch welche Autor*innen wurden nach Klagenfurt eingeladen, welche Themen behandelt, welche Geschichten erzählt bzw. ausgezeichnet und wie wurde über sie geurteilt?

Eingeladen wurden nach Klagenfurt 14 Autor*innen, wovon lediglich 12 Personen tatsächlich in Klagenfurt angetreten sind. Vorgelesen wurde an drei aufeinander folgenden Tagen. Sowohl die Lesungen als auch die anschließenden Diskussionen über die Texte dauerten jeweils ca. 30 Minuten. Über die Preisverteilung wurde in einer (digital und anonym erfolgten) Live-Abstimmung während der Abschlussveranstaltung entschieden, was vermutlich mehr Transparenz hinsichtlich der Ermittlung des Gewinnertextes garantieren sollte und zusätzlich für den Spannungsaufbau sorgte. Dieses Jahr gab es erneut einige personelle Änderungen, sowohl in der Jury (zum ersten Mal dabei waren Mithu Sanyal und Thomas Strässle) als auch in der Veranstaltungsmoderation – Peter Fässlacher führte als Nachfolge von Christian Ankowitsch neben Cécile Schortmann durch die Veranstaltung. Eine große Mehrheit der Teilnehmer*innen – zehn von dreizehn Personen – kam aus Deutschland. Diese ungleiche Verteilung spielte bei der Preisverteilung jedoch keine Rolle, da unter den vier Preisträger*innen jeweils eine Person aus Österreich und der Schweiz ihren Platz gefunden haben.

Den mit 25.000 Euro dotierten Ingeborg-Bachmann-Preis 2023 hat Valeria Gordeev mit ihrem Text Er putzt gewonnen. Im Gewinnertext erleben wir eine stark verdichtete Kurzgeschichte über einen Jungen im Putzwahn, über verschiedene Putzmittel und ihre Wirkung und, wie sehr der Protagonist mit seiner aktuellen Lebenssituation überfordert ist: Die Mutter ist die meiste Zeit abwesend, er muss sich um den Haushalt und seine kleine Schwester allein kümmern. Einige Anspielungen lassen sich erahnen, etwa der migrantische Hintergrund der Figuren, andere ergeben sich aus den Zwischentönen  zum Beispiel der Vergleich der Serie Emergency Room mit einem systemischen Versagen der Gesellschaft.

Der Deutschlandfunk-Preis, der mit 12.500 Euro dotiert ist, ging dieses Jahr – mit einem Punkt Unterschied zu dem erstplatzierten Text – an Anna Felnhofer, die in Klagenfurt auf die Einladung von Brigitte Schwens-Harrant ihren Text fische fangen gelesen hat. Ihr Text über den unter der physischen Gewalt seitens der Mutter leidenden Jugendlichen, der keine Gesichter erkennen kann, scheint unter der Textoberfläche ein komplexes psychologisches Phänomen zu behandeln. Diese dichte Kurzgeschichte verfügt – ähnlich wie der Gewinnertext – über einen klaren Handlungsrahmen, deutlich gezeichnete Figuren und eine weitere Deutungsebene unter der Textoberfläche.

Der Kelag-Preis (10.000 Euro) sowie der BKS Bank-Publikumspreis (7.000) gingen an den Frankfurter (a/Main) Autor Martin Piekar, der in dem hochperformativen Text Mit Wänden sprechen/Pole sind schwierige Volk seiner kürzlich verstorbenen Mutter ein Denkmal setzte. Piekars Erzählung – ähnlich wie die Texte von Valeria Gordeev und Anna Felnhofer – behandelte eine Coming-of-Age-Geschichte unter erschwerten Bedingungen (hier: eine alkoholkranke Mutter) und eine Mutter-Kind-Beziehung. Zu beachten ist die lebhafte Performance des Autors, der nicht nur das „broken German“ hörbar machte, sondern auch dazwischengeschobene Lieder und etwa die zahnlose Oma. Den besonderen Sound des Textes machten aber nicht nur die Singeinlagen, sondern auch die Textsprache, die stets – zum Teil mehrmals innerhalb eines Satzes – zwischen dem Deutschen, Polnischen und Englischen wechselte.

Der 3Sat-Preis (7.500 Euro) ging an Laura Leupi für Das Alphabet der sexualisierten Gewalt. Bei diesem Text handelt es sich ebenfalls um ein mehrschichtiges Kunstwerk, das sich aus einer doppelten Textoberfläche und einer performativen Komponente zusammensetzt. Leupis Performance, die stark mit dem Phänomen der Authentizität spielte, erzwang eine ungewöhnliche Öffentlichkeit für ein noch immer tabuisiertes Thema und zeigte der Literaturkritik die Grenzen des Urteils an.

Die Diskussion der Jury bewegten sich im Idealfall sehr nah am Text, befassten sich jeweils mit Aufbau und Sprache, mit der Figurenentwicklung, der Verarbeitung des gewählten Themas und den Deutungsmöglichkeiten. Sehr oft führten die Texte allerdings auch zu grundlegenden Diskussionen und beinahe zur Aushandlung von Kriterien, die dem individuellen Urteil der Jurymitglieder zugrunde liegen. So lenkte die Jury dieses Jahr mehrfach die Diskussion auf das Thema der Konventionalität der Texte und kam zu der Schlussfolgerung, dass es für Konventionalität in der Literatur kaum eine allgemeingültige Definition gebe. Mehrfach diskutiert wurde auch die Frage nach der Authentizität und die Notwendigkeit der Trennung zwischen der Autorschaft und der Erzählstimme. Diese Diskussion wurde dadurch befeuert, dass viele der eingeladenen Autor*innen sich anscheinend stark von dem eigenen Leben und Erfahrungen haben inspirieren lassen. In der diesjährigen Ausgabe des Wettbewerbs gab es zudem einen ungewöhnlich hohen Anteil an Texten, die durch den performativen Charakter der Lesung um eine neue Lesart bereichert wurden. Hierbei wurde insbesondere die Frage diskutiert, inwieweit die Performance ein Teil des literaturkritischen Urteils werden solle. Zwar wurde dies nicht abschließend festgelegt, doch man konnte sich darauf einigen, dass es sich bei dem Bachmannpreis-Wttbewerb um ein „Package“ (Klaus Kastberger) handle, das sowohl das Vorstellungsvideo als auch den Text und seine Lesung umfasst. Da in der Zukunft mehr Texte zu erwarten sind, die irgendwo zwischen dem geschriebenen Wort und seiner Belebung während einer Lesung oszillieren, wäre es notwendig, das Instrumentarium der Literaturkritik in dieser Hinsicht zu erweitern. Auch der Umgang mit bestimmten Themen wie Gewalt, der neuen Körperlichkeit oder einigen selten behandelten Narrativen, deckte fehlende literaturkritische Parameter auf, die einen den Themen gegenüber wertungsfreien Umgang mit literarischen Texten sichern könnten. Nicht zuletzt hat sich die Jury bei einem der Texte dazu verleiten lassen, zu spekulieren, ob der vorliegende Text anstelle der Autorin auch von der KI verfasst worden sein könnte. Dabei zeigte sich in der Diskussion einerseits eine Angst davor, solche Texte von den durch menschliche Kreativität verfassten nicht unterscheiden zu können, andererseits fehlt das Instrumentarium zum Umgang mit solchen Texten.

Es lohnt auch ein Blick auf die Thematik der Texte, denn bei vielen lassen sich überschneidende thematische Schwerpunkte erkennen, und zwar wurde in auffällig vielen Texten eine Eltern-Kind-Beziehung bzw. die Mutter- und Vaterschaft an sich verhandelt. Eine solche thematische Überschneidung lässt sich sogar bei drei der vier Gewinnertexten beobachten. Ebenfalls oft wurde aus der Ich-Perspektive erzählt, wobei die (überwiegend männlichen) Protagonist*innen vorwiegend an der Schwelle zum Erwachsenwerden standen. Nicht selten wurden außerdem Schicksale der Migration behandelt (ebenfalls unter den ausgezeichneten Texten) oder auch eine Gendertransformation. Weitere Themen, die sich überraschend oft wiederholten, waren die psychische und physische (auch sexualisierte) Gewalt sowie eine alkoholkranke Mutter. Beide Themen wurden auch in den Gewinnertexten zentral verhandelt. Zu den beliebtesten Motiven der Bachmann-Texte 2023 gehören: geschlossene, private Räume, das Motiv der Auflösung, der Köper und insbesondere das Gesicht. Dass sich die Themen und Motive jedoch wiederholen und überschneiden, ist kein Zufall. Denn man darf nicht vergessen, dass die Texte von den jeweiligen Juror*innen nominiert werden. Dass die Texte sich einander ähneln, zeigt, dass die Literaturkritik und ihre Akteur*innen sich thematisch in immer enger werdenden Kreisen bewegen.

Zudem könnte das Jahr 2023 (mit einem Augenzwinkern) zu dem Jahr erklärt werden, an dem in Klagenfurt das Publikum entdeckt wurde. Denn während in den vergangenen Jahren der Wettbewerb zwischen dem lesenden Autor oder der lesenden Autorin und der Jury ausgetragen wurde, wurde dieses Jahr das Publikum mehrmals gezielt angesprochen, ob durch Kommentare noch vor der Lesung oder währenddessen oder auch durch die Art des Vortrags, in dem das Publikum gezielt adressiert wurde, sodass sich bei der letzten Lesung überraschend eine Person aus dem Publikum erhob und den Text kommentierte. Wäre es möglich, dass sich das Publikum in den kommenden Jahren über das Voting für den Publikumspreis hinaus auch aktiver an der Ermittlung des Gewinnertextes beteiligt?

Zusammenfassend lässt sich auf einen spannenden Bachmannpreis-Jahrgang zurückblicken, an dem abermals die neuen und alten Trends aufeinandertrafen, Statements gesetzt wurden und an dem die Literatur auf wichtige Themen aufmerksam machte und im Idealfall einen Reflexionsprozess in Gang setzte. Vielleicht hat die Literatur angesichts der beunruhigenden Entwicklungen in der Welt ihre Kraft, die Realität positiv zu beeinflussen und sie zu verändern, doch noch nicht verloren.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen