Erst Irren, dann Erkennen.

Dorothy Thompsons „I Saw Hitler!“ (1932) in vorzüglicher Übersetzung und erstklassiger Edition

Von Günter HelmesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Helmes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wieder ist es dem Wiener Verlag „Das vergessene Buch“ gelungen, einen, könnte man ebenso floskelhaft wie angestaubt sagen, Kulturschatz zu heben – um damit nur einer Art Chronistenpflicht nachzukommen, die kulturellen Res Gestae zu erhalten?

Dorothy Thompsons zunächst in zwei bedeutenden Zeitschriften erschienener und dann in einer um 46 kommentierte Abbildungen ergänzten und überarbeiteten Buchausgabe im Frühjahr 1932 in New York verlegter „Reportage-Essay“ (O. Lubrich) I saw Hitler!  über ihr Interview mit Adolf Hitler im Hotel Kaiserhof in Berlin im Dezember 1931 ist zuallererst ein historisches Dokument vom Vorabend der Machtübergabe an Hitler. Aber darin erschöpft sich die Bedeutung dieses Buches keineswegs, das ja nicht irgendwer verfasst hat, sondern die, wie das exzellente Nachwort wissen lässt, erste Frau, die in den 1920er Jahren „Korrespondentin für wichtige US-amerikanische Medien in Wien und anschließend in Berlin“ (O. Lubrich) wurde.

I saw Hitler! ist nämlich zugleich ein Buch wenn auch nicht über, so doch für unsere Gegenwart. Es liefert gerne schon wieder vergessene oder verdrängte Erklärungsansätze dafür, wie ein „kleiner Mann“ von „verblüffende[r] Bedeutungslosigkeit“ wie Hitler dank wirkmächtiger, an Wissen und Geisteskraft gemessen vermeintlich ‚niederer‘ Fähigkeiten so hoch steigen kann, dass er „die Welt in Atmen“ hält – die Trumps, Erdoğans, Orbáns, Selenskyis und wie diese Inszenierungs-Filiationen unserer Gegenwart nicht alle heißen lassen grüßen.

Die vorliegende Edition enthält aber nicht nur die von Johanna von Koppenfels übersetzte amerikanische Buchausgabe – 37 Seiten Text und 80 Seiten mit Erläuterungen Thompsons versehener Abbildungsteil. Sie enthält auch, ebenfalls in Koppenfelsscher Übersetzung, Thompsons Essay Good-By to Germany, verfasst anlässlich ihrer internationales Aufsehen erregenden Ausweisung aus Deutschland vom 24. auf den 25. August 1934 und erschienen im Dezember des gleichen Jahres im prominenten Harper’s Monthly Magazine.

An die Thompson-Texte schließt sich das bebilderte, perspektivenreiche wie argumentativ brillante Nachwort des Herausgebers mit dem Titel Das missverstandene Missverständnis an, dazu ein 8 Positionen umfassender, beachtliche 55 Seiten langer Apparat. Dieses Nachwort, das u. a. wichtige Stationen des beruflichen Werdegangs Dorothy Thompsons nachzeichnet, geht zentral der Frage nach, ob Dorothy Thompson wirklich Hitler „,schlimm unterschätzte‘“ (William Shirer). Oliver Lubrich macht plausibel, dass das so keineswegs der Fall ist und die behauptete „legendäre Fehleinschätzung“ Dorothy Thompsons selbst eine Fehleinschätzung des tatsächlichen Sachverhaltes ist. Thompson habe sich anfangs durch Hitlers Erscheinungsbild und Auftreten irritieren bzw. täuschen lassen. Diese Irritation habe bei ihr dann aber einen Erkenntnisprozess ausgelöst, an dessen Ende die Einsicht in die Gründe für Hitlers Wirkmächtigkeit gestanden habe.

In diesem Zusammenhang geht es selbstverständlich um das Interview und dessen zeitpolitische Voraussetzungen, darüber hinaus aber auch um Themen wie „Die Psychologie des Faschismus“, die „Rhetorik der Besessenheit“, die „raffinierte[] Dramaturgie“ von Thompsons „Reportage-Essay“, die ‚Entzifferung‘ und Übersetzung von dessen anspielungsreichem Titel und um „Rechtspopulismus in Amerika“. Der Apparat seinerseits ist für eine Leseausgabe außergewöhnlich und orientiert sich offensichtlich an Anforderungen an eine historisch-kritische Ausgabe.

Schon in ihrem Vorwort stellt Thompson einige Vorzüge des „kleine[n] Mann[es]“ Hitler heraus, die gerne heruntergespielt, belächelt, verabscheut oder übersehen wurden – und an heutigen erfolgreichen Populisten immer noch werden: „Um die Massen in Bann zu schlagen, hat er eine Tenorstimme, beachtliche theatralische Fähigkeiten und einen hysterischen Glauben an seine Mission.“ Über das Vorwort und den Haupttext verstreut werden dann weitere Vorzüge Hitlers genannt: Er sei ein „großartiger Propagandist“, der bspw. um die Wirkmächtigkeit von Bildern wisse, die dem geschriebenen Wort überlegen ist.  Obendrein sei er ein „begnadete[r] Agitator“ von hoher „rhetorische[r] Begabung“: „Hitler ist der geschickteste aller Demagogen.“ Er habe es verstanden, „eine politische Maschinerie aufzubauen, der man in rein organisatorischer Hinsicht nur die größte Hochachtung entgegenbringen“ könne. Bei aller sonstigen äußeren, die innere Armut spiegelnden Nichtigkeit könne man ihm „einen gewissen Charme“ nicht absprechen, und in seinem „Gesicht […] eines Schauspielers“ ruhten „bemerkenswert[e]“ Augen. Das, was er sage, sei „magisch“, zumindest für einen Gutteil des Publikums.

Hitlers Publikum identifiziert Thompson als das „des patriotischen, gekränkten, kleinbürgerlichen Mobs“. Es verdanke seine Existenz dem Verhalten der demütigenden und reparationsgierigen Alliierten und der an entscheidenden Stellen – Justiz, Bildung, „paramilitärische[] Banden“ – nicht prinzipientreuen „Deutschen Republik“ selbst. Im Hauptteil des Essays selbst wird dann regelrecht eine „Theorie des Rechtspopulismus“ (O. Lubrich) entwickelt. Diese kulminiert in der rhetorischen Frage „Wundert es […], dass ihm Millionen folgen?“.

Dieser Hauptteil des Essays, „eine Studie in politischer Psychologie“ (O. Lubrich), ist in 6 Kapitel untergliedert. Er geht auch auf Hitlers Aufstieg, dessen Biographie, auf Mein Kampf (unter den Stichworten „Antisemitismus“, „Antirepublikanismus und Anti-„Kreditkapitalismus“) sowie auf den „schwierig[en]“ Ablauf und die mehrheitlich prekären Ergebnisse des Interviews ein und stellt für die Zukunft diverse politische Erwägungen an. In diesen Zusammenhängen kommt die Rede auch auf andere, typologisch verstandene Deutsche – genannt werden Bethmann Hollweg, Brüning, Einstein, Leonhard Frank, Feuchtwanger (den sie übersetzte), Gerhart Hauptmann, Hindenburg, Thomas Mann, Planck, Remarque, Stresemann und Wassermann – und auf einen ausländischen Staatsmann wie Lloyd-George.

Ein paar Sätze abschließend zu Good-By to Germany. Dieser als erzählende Erinnerung angelegte, in 4 Abschnitte unterteilte Essay ist zunächst (Abschnitt 1) für all diejenigen von hohem Interesse, die sich für die politische Situation in Österreich und dessen Beziehungen zu Nazi-Deutschland und dem faschistischen Italien im Jahre 1934 interessieren. Im 2. Abschnitt wird episodisch geschildert, wie sehr die „,Nazi-Revolution‘“, dieser „,Schlag gegen die gesamte Christenheit‘“ (ein namenlos bleibender „katholischer Intellektueller“), den Alltag in der süddeutschen Provinz und in München bereits durchseucht hat. Die Stichworte hier lauten Hitler-Vergötterung, auf Krieg vorbereitende Verführung von Kindern und Jugendlichen, Bespitzelung und Verängstigung der Bevölkerung. Abschnitt 3 berichtet von Begegnungen in Berlin mit Nazi-Anhängern, einer davon ein SA-Mann und Hitler-Kritiker. Im Zentrum steht der sogenannte Röhm-Putsch (in diesem Zusammenhang wird irrtümlich der 13. Juni statt des 13. Juli für Hitlers betreffende Reichstagsrede genannt). Der 4. Abschnitt gibt ein in trügerischer sommerlicher Atmosphäre stattfindendes, aufschlussreiches Gespräch mit einem befreundeten, nunmehr „gleichgeschaltet[en]“ deutschen „Zeitungsmann“ wieder. Er endet damit, dass Dorothy Thompson im Adlon von der Gestapo aufgesucht und aus Deutschland ausgewiesen wird.

Titelbild

Dorothy Thompson: Ich traf Hitler! Eine Bild-Reportage.
Aus dem Englischen von Johanna von Koppenfels.
Das vergessene Buch – DVB Verlag, Wien 2023.
276 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783903244238

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