Warum ein Prophet auch außerhalb seines Landes nichts gilt…
Zur Herausgabe und Übersetzung von Hanoch Levins Theaterstücken im Band „Die im Dunkeln gehen“
Von Nathanael Riemer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseBeauftragt man ChatGTP, die wichtigsten israelischen Theaterschriftsteller zu nennen, wird Hanoch Levin an erster Stelle genannt und folgendermaßen vorgestellt: „Hanoch Levin (1943-1999) gilt als einer der bedeutendsten israelischen Dramatiker des 20. Jahrhunderts. Seine Werke sind für ihre satirische und kritische Darstellung der israelischen Gesellschaft bekannt.“
Die Koryphäe des israelischen Theaters wuchs als Kind polnischer Einwanderer in ärmlichen Verhältnissen in Tel Aviv auf. Bis zum Tod seines Vaters genoss er eine religiös-orthodoxe Schulbildung, musste diese jedoch aufgeben, um seine Familie zu unterstützen. In einer Abendschule für jugendliche Arbeiter lernte Levin die Welt des Theaters kennen, übernahm erste Rollen und studierte nach dem Armeedienst Literaturwissenschaft und Philosophie an der Universität in Tel Aviv. Wie für zahlreiche Schriftsteller, Künstler und andere Intellektuelle Israels wurde auch für ihn der Sechs-Tage-Krieg im Juni 1967 zur Zeitenwende im eigenen Leben, ohne die das Werk Levins und das politische Denken der progressiven Teile seiner Generation nicht verstanden werden können.
Aufgrund zahlreicher Vorfälle hatte Israel den Krieg ohne formelle Kriegserklärung mit einem Überraschungsangriff begonnen. Der Erstschlag war so erfolgreich, dass der junge Staat nach nur sechs Tagen militärisch dazu in der Lage war, die Hauptstädte von Ägypten, Jordanien und Syrien einzunehmen. Die entscheidende und nachhaltige Bedeutung des Sechs-Tage-Kriegs bestand in der Eroberung der Westbank, des Gazastreifens und der Golanhöhen, wodurch knapp zwei Millionen nichtjüdische Einheimische in den politischen Machtbereich Israels gelangten und nun zukünftig kontrolliert werden mussten. Unzählige Stimmen erkannten hierin große Herausforderungen für Israel als demokratischen Staat. So prognostizierte der bedeutendste Philosoph Israels, Jeschajahu Leibowitz, im Jahr 1968:
Die Araber verwandeln sich in die Arbeiterklasse, und die Juden zu Administratoren, Inspektoren, Verwaltern und Polizisten – vor allem aber zu Geheimpolizisten. Ein Staat, der eine unfreundlich gesinnte, eineinhalb bis zwei Millionen fremde Menschen zählende Bevölkerung beherrscht, wird zwangsläufig zu einem Staat, der von einer Geheimpolizei beherrscht wird – mit all seinen Implikationen für die Bildung, die Redefreiheit und die Demokratie. Die korrumpierenden Kräfte jedes Kolonialregimes werden sich auch im israelischen Staat zeigen. (Leibowitz: Judaism, Human Values and the Jewish State)
Dem Suhrkamp Theater-Verlag gelang es vor einigen Jahren in einem Kurzvideo über Hanoch Levins Werk genau das Herzstück des Œuvres dieses Theaterschriftstellers einzufangen. Gleich zu Beginn des Videos, in dem Bilder aus dem Sechs-Tage-Krieg eingeblendet werden, parodiert ein Schauspieler einen Armeesprecher mit den Worten: „Innerhalb von elf Minuten haben wir es geschafft, unsere Feinde zu vernichten, zu zerstören, zu zerstreuen, zu zertrampeln, zu zerquetschen, zu zerschneiden, zu zerhacken, zu sprengen und zu zerquetschen.“ Doch Levins Werk lässt sich keineswegs auf die Kassandra-Rufe eines linkskritischen Intellektuellen reduzieren; seine eigentliche Stärke liegt in der Darstellung des Banalen und Absurden des menschlichen Seins im Alltag. Die Figuren seiner Satiren entstammen überwiegend der ärmlich-kleinbürgerlichen Bevölkerung, die in einer weitgehend säkularisierten städtischen Umgebung um die Parnosse – also den täglichen Lebensunterhalt – kämpft. Ihre Bedürfnisse, ihr Denken und Handeln gewähren tiefe Einblicke in die Adoleszenz dieses jungen Staates im Heiligen Land, dürften jedoch auch für andere Gesellschaften eine gewisse Relevanz aufweisen.
Wie Matthias Naumann in dieser deutschen Erstausgabe von sechs Theaterstücken Hanoch Levins zeigt, ergibt sich die Komik Levinscher Theaterstücke „aus einem oft grotesken und deftigen Spiel mit sexuellem Begehren und einer direkten Derbheit, wenn es um schlüpfrige, erotische und fäkale Bezüge geht, um Essen und Ausscheiden.“ Jedoch hebt Naumann in seiner Einführung hervor, dass
das Zeigen der Verhaltensformen nie moralisierend ist, die Figuren ausgestellt, aber nicht bloßgestellt werden. Bei allem, was geschieht, und all ihrer Unzulänglichkeiten entsteht bei Levin immer eine Art Nähe, Zärtlichkeit und Verständnis gegenüber seinen Protagonist*innen, es wird mit ihnen gelacht und geseufzt und nicht über sie.
Selbstverständlich enthalten die Stücke zahlreiche Anspielungen auf die jüdische Geschichte und Kultur vom „Tanach bis zur Palmach“ – also von der Bibel bis zum Zionismus einschließlich der Shoah. Levin, der es ablehnte, einem “gerechten“ beziehungsweise „gerechtfertigten“ Krieg zu dienen, ist mit Ilan Ronens Worten „zu einem klassischen Autor geworden: Du nimmst ein Stück, das vor dreißig Jahren geschrieben wurde. Du entdeckst nicht nur, dass es immer noch relevant ist, sondern, dass es heute relevanter ist denn je.“ (Kurzvideo des Suhrkamp Theater-Verlags)
Die sechs Theaterstücke Levins, die in der ersten deutschen Ausgabe im Nofelis-Verlag publiziert wurden, hat der Theaterwissenschaftler und Verleger Matthias Naumann übersetzt. Naumanns Beschäftigung begann zwei Jahre nach Hanoch Levins frühem Tod im Jahr 1999, jedoch übersetzte er auch andere Werke namhafter israelischer Autoren aus dem Hebräischen. Aus diesem Grund ist die Bedeutung der vorangestellten Einführung in das Levinsche Œuvre und dessen internationale Rezeption hervorzuheben. Diese siebzehnseitige Hinführung mit dem Titel ‘Mitten in der Suppe!’ Theater zwischen Grausamkeit und Groteske ist keineswegs „essayistisch“ zu nennen, wie der Text des Buchdeckels andeutet, sondern entspricht einem wissenschaftlichen Artikel, die sowohl die hebräischen Originaltitel als auch eine Übersetzung derselben berücksichtigt. Die Einführung selbst ist insgesamt gut lesbar und vor allem spannend geschrieben, sodass dem Lesepublikum wesentliche Informationen zum Inhalt und zur motivgeschichtlichen Einordnung der Stücke an die Hand gegeben werden. Freilich wird das Lesen durch die Vielzahl diakritischer Zeichen etwas erschwert.
Die ausgewählten und chronologisch geordneten Stücke gehören zu den bekanntesten Levins: Schitz (שיץ), Hiobs Leiden (יסורי איוב), Die Kofferpacker (אורזי מזוודות), Das Kind träumt (הילד חולם), Mord (רצח) und Die im Dunkeln gehen (ההולכים בחושך), das zugleich dem Buch den Titel verleiht. Vier besonders delikate Theaterstücke Levins wurden bemerkenswerterweise nicht aufgenommen – vermutlich, um den zarten Empfindungen des Rezensenten eine Überlebenschance zu geben: Du und ich und der nächste Krieg (את ואני והמלחמה הבאה), Ketchup (קטשופ), Königin eines Badezimmers (מלכת אמבטיה) und Der Patriot (הפטריוט). Wer sich dennoch exemplarisch ein grobes Bild von der sprachlichen und inhaltlichen Brisanz des zuletzt genannten Werkes machen möchte, kann den ersten Teil des Artikels von Uri Shani mit dem Titel Hanoch Levin: 20 Jahre ohne ihn recherchieren. In ihm kommt Levin selbst zu Wort und erläutert den Inhalt des Stückes, das 1982 durch den Vorsitzenden der Zensurbehörde, Yehoshua Yostmann, zensiert wurde.
Der überaus lobenswerte und publikumsfreundliche Verkaufspreis von 16 Euro des 334 Seiten starken Buches kann unter anderem durch prominente, finanzielle Unterstützung erklärt werden, beispielsweise durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, die Botschaft des Staates Israel in Deutschland und The Hanoch Levin Institute of Israeli Drama. Matthias Naumann als Übersetzer und Herausgeber hat sich selbst für seine kenntnisreiche und hartnäckige Arbeit mit der vorliegenden Publikation belohnt, die für diese kulturelle Transferleistung unbedingt zu würdigen ist.
Es bleibt zu hoffen, dass Hanoch Levin auch jenseits der Theaterwelt des deutschsprachigen Raums bekannter wird, zumal inzwischen eine ganze Reihe israelischer und arabischer Regisseure und Schauspieler hier leben. Warum eine wirkliche Entdeckung seiner Werke hierzulande noch ein Desiderat ist, ist Naumann ein Rätsel. Und auch der Rezensent glaubt, dass er derzeit keine zufriedenstellende Antwort bieten kann. Aus diesem Grund soll hier der berühmte „Publikumsjoker“ eingesetzt werden. Ganz im Sinne der Gamification überlassen wir deshalb die Denkaufgabe, warum ein Prophet auch außerhalb seines Landes nichts gilt, dem geneigten Lesepublikum und ChatGTP, sofern Letzteres nicht überlastet ist.
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