Himmeltraurige Träumer

In seinem Roman „Monde vor der Landung“ erzählt Clemens Setz von einem Denker, der die Welt als Hohlkugel sah

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt Menschen, die haben einen eigenen, speziellen Blick auf die Welt. Sie erkennen in deren Bewegungsgesetzen Muster und Pläne, die Uneingeweihten verborgen bleiben. Diese Menschen meinen, die Wahrheit zu kennen und Abhilfe für die herrschenden Nöte und Krisen zu wissen. „Alle großen Neuerungen der Menschheit waren von Außenseitern gekommen.“ Diese Aussageb stammt von Peter Bender (1893-1944). Mit ein paar wenigen Getreuen, allen voran seiner jüdischen Frau Charlotte, vertrat er ein Weltbild, das sich gegen das kopernikanische System stellte und auf einer radikal andere Vorstellung beruhte.

Bender zufolge ist die Erde nicht Teil einer kosmologischen Konstellation, sondern eine im unerklärlichen Außenraum schwebende Hohlkugel, auf deren dünner Innenseite wir Menschen leben und ins Zentrum der Kugel blicken, wo der Sternenhimmel flimmert. Dieser hohle Erdmond entwickelte sich aus Monden, ihrerseits Hohlkugeln, die einst auf ihm landeten und jeweils neue Geschöpfe in die irdische Sphäre brachten. Ein wunderbarer Vorgang, von dessen Großartigkeit Bender hingerissen war. „Nichts ist so frei wie Monde vor der Landung“, war einer seiner jubelnden Sätze. In den Zwanzigerjahren und spätestens nach dem Machttransfer an die Nazis 1933 waren solche unorthodoxen Vorstellungen aber nicht nur befreiend, sondern auch gefährlich, mochten sie noch so arglos erscheinen.

In seinem Roman Monde vor der Landung folgt Clemens Setz seinem Protagonisten Peter Bender durch alle Untiefen des verworrenen Spintisierens und der prekären Existenz. Bender war ein Träumer und Phantast, im Ersten Weltkrieg preußischer Fliegerleutnant, der mit seinem Flugzeug abstürzte und schwer traumatisiert aus dem Krieg heimkehrte. Mehr und mehr entwickelte er eigene Ideen für eine menschenfreundliche, friedliche Welt, über die er sich mit ähnlich Gesinnten austauschte. In Worms gründete er eine „Menschheitsgesellschaft“, er entwickelte eine alternative Geldtheorie, und sein Konzept der „Quadratform der Geschlechter“ strebte eine wahrhaftige Gleichberechtigung an, mit dem „ersten Menschheitspaar“ Peter und Charlotte als Zentrum.

In seiner Hohlwelt-Theorie bezog sich Bender auf die Überlegungen des Amerikaners Cyrus Teed, genannt Koresh, der um 1870 illuminiert wurde und entdeckte, dass die Welt eine Hohlkugel sei. Die „Beweise“, auf die Bender und seine Mitstreiter ihre Idee stützten, überzeugen bis heute allerdings weniger wissenschaftlich als erzählerisch. An diesem Punkt setzt Clemens Setz an, indem er die angebliche Theorie als alternative Erzählung zum Leuchten bringt: Auch so könnte die Welt aussehen! Die Hohlwelt-Erzählung mit ihren zur Landung ansetzenden Monden ist am besten in der Sprache und der literarischen Vorstellungskraft aufgehoben. So gesehen ist sie bei Setz in guten Händen. In seine stimmige, behutsam komponierte Erzählung legt er Respekt und Verständnis für die phantastischen Ideen Benders, ohne ihnen zu erliegen. Er erzählt seinen Stoff aus der Optik des leidenschaftlich interessierten Beobachters. Auf den 500 Seiten findet er immer wieder einen schillernden Aspekt, eine verschrobene Idee oder eine bedenkenswerte Begebenheit, die den Lesefluss antreiben. Dabei pendelt Setz – gerade weil er viel in schwebender Balance hält – die Extreme mit Sorgfalt aus: auf der einen Seite die lächerliche Idee, auf der anderen das leidenschaftliche Bemühen um Beweise dafür. Tollheit und Melancholie halten sich die Waage.

Setz porträtiert seinen Protagonisten in den verschiedensten Facetten, ohne dabei ins Psychologisieren zu geraten. Bender erscheint als ein beseelter Schwafler, wie er schon seinen Zeitgenossen vorkommen musste. Doch, fragt Setz zwischen den Zeilen: Wie wäre die Geschichte verlaufen, hätten Menschen wie er mit ihren Ideen mehr Erfolg gehabt? „Seltsam, wie tröstlich es für einen Menschen sein kann, zumindest zu wissen, dass man in die richtige Richtung blickt, auch wenn das, was man anvisiert, selbst unsichtbar und unerreichbar bleibt.“

Es ist ein beständiges Hin und Her zwischen Hoffen und Bangen auf einer sachte abfallenden Ebene. Peter Benders naive Blindheit gegenüber den alltäglichen Sorgen seiner jüdischen Frau Charlotte wirkt egoistisch, hingegen berührt seine unbeugsame Haltung, die er keinem Kalkül opfert – im Gegensatz etwa zu seinem Freund Johannes Lang, der die Hohlwelt in den Dienst der Nazi-Ideologie zu stellen versuchte. Benders Leidenschaft und Starrsinn führen ihn zu gleichen Teilen ins ökonomische wie politische Abseits. „Ach, es war traurig, niemand sonst hatte so schöne Gedanken wie er. Und sie konnten nirgends hin.“

Charlotte bleibt treu an seiner Seite. Auch von ihr erzählt Setz. Wenn sie darüber klagt, dass ihr das Geld für alltägliche Besorgungen fehle, reagiert Bender mit ungläubigem Staunen und mit leeren Versprechungen, sich selbst um Einkünfte zu kümmern. So obliegt es der Frau, für den Haushalt zu sorgen, die beiden Kinder zu betreuen und Geld zu verdienen, indem sie privaten Sprachunterricht erteilt, auch wenn genau dies für Jüdinnen zusehends unmöglich wird. Benders öffentliche Vortragsreden hingegen werfen kaum etwas ab, ja mehr noch bringen sie ihn zusätzlich in die Bredouille. Er wird wiederholt wegen „krankhafter Störung“ der Öffentlichkeit angeklagt, zu Gefängnisstrafen verurteilt oder mit der Diagnose „fanatisch besessen“ ins Irrenhaus gesteckt. Bender ist ein Gläubiger im doppelten Wortsinn, aber er ist kein böser Mensch. Er hält zu Charlotte, gerade weil sie Jüdin ist und als solche immer offener schikaniert wird. Doch er kann ihr keinen Schutz bieten, da er – im Unterschied zu ihr – eine Ausreise nie auch nur in Erwägung zieht. Für die wahre Gefahr ist er blind. Wie entbehrungsreich Charlottes Leben neben einem solchen Mann sein musste, bedeuten ein paar Zeilen aus einem Gedicht von ihr, die Setz zitiert:

Mein Herz schlägt nicht so rasch wie Deines,
Ich treib es an
Und keuche nebenher und halte aus,
solang ich kann.

1943 hatte dieses Leiden ein Ende. Bender wurde inhaftiert und 1944 in Mauthausen ermordet, Charlotte wurde im selben Jahr nach Auschwitz deportiert. Die Tochter Maria war als Au-Pair in England sicher, der Sohn Gerd überlebte das KZ.

Monde vor der Landung ist das Dokument einer schillernden Lebensgeschichte und am Schluss ein trauriges, trostloses Buch. Benders Briefe an die Koresh-Gemeinde in Florida, in welchen er zuerst sich, später Charlotte als Reinkarnation Koreshs bezeichnet, sind ebenso verzweifelte wie unter gegebenen Umständen absurde Signale eines Verlorenen, der vergeblich auf Rettung für sich, Charlotte und die Welt hofft. Diese Briefe sind, nebst dem Roman Karl Tormann, ein rheinischer Mensch unserer Zeit, den Bender 1927 veröffentlichte, für Clemens Setz wichtige dokumentarische Quellen, aus denen er zitiert und davon faksimilierte Auszüge in den Roman einfügt.

An der Figur von Bender macht Setz die ideelle und soziale Unrast der Weimarer Republik fest und wie diese in ein neues Kriegsregime mündete, dessen zunehmender Brutalität der politisch naive Peter Bender schutzlos ausgeliefert war. Es läge nahe, ihn als Querdenker in direkten Bezug zur Gegenwart zu setzen, doch Setz forciert solche Analogien in keiner Weise. Mehr noch bedeutet er unterschwellig eine Differenz zwischen Geschichte und Gegenwart. Peter Bender war kein Eiferer. Durch den Ersten Weltkrieg traumatisiert, wollte er vielmehr eine Friedensbotschaft verkünden, die Welt mit neuem Sinn erfüllen. Diese menschenfreundliche Haltung geht zumindest jenen aktuellen Querdenkern ab, die lauthals die Medienkanäle besetzen. Sie sehen sich in einem manichäischen Kampf gegen ein System, das es anzugreifen, auszulöschen gilt.

Mit feinen Zwischentönen hebt Setz die Konzepte und Ideen seines Protagonisten davon ab. Während einer Bombennacht sagt dieser im Luftschutzkeller zu einer schwangeren Frau: „Ich wünschte, ich würde in das alles hier hineingeboren werden. Dann hielte ich es für normal.“ Das ist eine himmeltraurige Aussage, die zugleich von großer Einfühlsamkeit zeugt. So gesehen bilden Benders verschwurbelte Erzählungen und „Theorien“ selbst eine rettende Hohlkugel, in der die literarische Vorstellungskraft über den kalten Zeitgeist obsiegt. Peter Bender und seine himmlische Partnerin Charlotte bezahlten teuer für ihre Glaubenstreue – aber sie haben von Clemens Setz diesen schönen Roman geschenkt erhalten.

Titelbild

Clemens J. Setz: Monde vor der Landung. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023.
528 Seiten , 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783518431092

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