Eine Ausstellung in Buchform

Das Deutsche Literaturarchiv Marbach präsentiert Exilbriefe aus seinen Beständen

Von Veronika SchuchterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Veronika Schuchter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer über das Exil forscht – und damit ist im deutschsprachigen Kontext meist das Exil der vor dem Nationalsozialismus Geflohenen zwischen 1933 und 1945 gemeint – kommt am Deutschen Literaturarchiv in Marbach nicht vorbei. Niemand kennt die schier unüberschaubaren Bestände besser als jene, wie es im Vorwort heißt, die „‘unsichtbar‘ im Hintergrund wirken“, nämlich die Mitarbeiter:innen, die Archivar:innen, die Forschenden. Sie wurden gebeten, Exilbriefe auszuwählen und zu kommentieren. Es beteiligten sich aber nicht nur Kolleg:innen aus erwartbaren und naheliegenden Bereichen wie der Forschung oder dem Museumsbetrieb, sondern Mitarbeiter:innen aus ganz unterschiedlichen Abteilungen, aus Projekten, aus der Verwaltung, dem Archiv, dem Marketing, der Direktion. Das Ergebnis ist ein Band, der sehr unterschiedliche Zeugnisse des Exils präsentiert. Anders als der Titel und auch das Cover, auf dem ein Poststempel aus New York, Dezember 1933 prangt, erwarten lassen, wird historisch nicht nur die große Fluchtbewegung aus dem 3. Reich abgedeckt, auch wenn diese den größten Teil des Bandes füllt.

Der historische Rahmen erstreckt sich vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart, genauer von 1782 bis 2022. Es beginnt passenderweise mit einem Brief von Marbachs berühmtesten Sohn, Friedrich Schiller, an Karl Eugen, den Herzog von Württemberg. Die Räuber hatten Schiller quasi in die Flucht geschlagen, sie missfielen dem Herzog und ließen ihn den Militärarzt Schiller mit einem Schreibverbot belegen. Der Brief entstand nach Schillers Flucht aus Stuttgart. Es ist ein von Vorwürfen nicht freies, dennoch untertänig gehaltenes Gnadengesuch, das – wie Sandra Richter, Direktorin des Marbacher Literaturarchivs, die Schillers Brief ausgesucht hat, festhält – fehlschlug.

Nach nur zwei weiteren Briefen vor der NS-Zeit, einer davon von Deutschlands wohl berühmtesten Exilanten, Heinrich Heine, beginnt der große Exodus der von den Nazis verfolgten Schriftsteller:innen, deren Korrespondenzen das Herzstück des Buches bilden. Das Prinzip des Zufalls, nach dem die Auswahl der Briefe erfolgte, wie Herausgeberin Nicola Herweg in ihrem Vorwort schreibt, erweist sich als erstaunlich vielseitig: Hätte man gezielt versucht, verschiedenste Facetten des Exils und seiner Kommunikationsweisen abzudecken, wäre man zu keinem besseren Ergebnis gekommen. Der Band schafft es, über die präsentierten Einzelbeispiele die Bedeutung des Mediums Brief in seinen verschiedenen Formen im Kontext des Exils zu erzählen, statt sie nur theoretisch zu beschreiben.

Schon immer war der Brief eine Lebensader des Exils. Briefe ermöglichten in manchen Fällen den Kontakt mit der Heimat, schafften Netzwerke zwischen den Exilanten, waren Mittel des Protests in Form offener Briefe und sind heute das womöglich wichtigste Zeugnis des Lebens im Exil und auf der Flucht. Es sind oft kleine Details in den Briefen, die darüber Auskunft geben: Ständige wechselnde Adressen, Briefe, die den Adressaten um die halbe Welt nachreisen, die ständige Angst, dass Briefe verlorengehen, manchmal auch die amüsante Ausrede, ein Brief sei wohl nicht angekommen, obwohl er vermutlich aus mangelndem Interesse gar nie geschrieben wurde. Neben großen Namen wie Thomas Mann, Stefan Zweig, Hannah Arendt, Hilde Domin und Bertolt Brecht, deren Briefe meist schon publiziert wurden, finden sich auch erstmals publizierte Briefe weniger bekannter Exilant:innen.

Deutschland als verlassene Heimat wird abgelöst von einem geteilten Deutschland nach 1949 und endet bei einem Deutschland als Exilland, aus dem die ukrainische Autorin Natalka Sniadanko, Writer in Residence in Marbach, berichtet. Der Brief mit dem Titel „Ein Exilbrief aus Marbach“ beginnt mit den beklemmenden Worten: „Ich hoffe, ich werde nie einen Text mit einem solchen Titel schreiben müssen. Oder nie wieder. Denn ich schreibe ja bereits.“

Es finden sich nicht nur klassische Exilbriefe. Sowohl der Begriff Exil als auch der Begriff Brief werden weitgefasst. Postkarten und das im Exil der 1930/40er Jahre wohl wichtigste Kommunikationsmittel, das Telegramm, kommen vor, aber auch fiktive Briefe, wie ein Brief aus Saša Stanišićs Roman Wie der Soldat das Grammofon repariert oder ein offener Brief von Thomas Mann oder eine Widmung in einem Buch, in diesem Fall von Walter Benjamin an Siegfried Kracauer.

Ein Verzeichnis aller Korrespondenzstücke statt einer in den Klappentext gequetschten, schlecht lesbaren Aneinanderreihung der Briefe wäre wünschenswert gewesen, ebenso ein Namensregister. Neue Erkenntnisse für die Exilforschung bietet der Band nicht, das ist allerdings auch nicht sein Anspruch. Vielmehr hat man eine gut kuratierte Themenausstellung in Buchform vor sich, mit spannenden Exponaten, die exemplarisch das Exil erzählen. Dass jeder Brief von einer anderen Person ausgewählt und vorgestellt wird, gibt den Beiträgen eine persönliche Note und lässt den Blick auf etwas richten, das Speziell genug war, um das Interesse dieser Person zu wecken. So werden auch ungewöhnliche Exilgeschichten präsentiert, etwa jene von Christine Münzing ausgewählte, in der keine Person, sondern ein Buch ins Exil kommt: Boris Pasternaks Doktor Schiwago, herausgegeben von Kurt und Helen Wolff bei Pantheon Books. Pasternak, der nicht ins Exil geht, wird von einem verlegt, der selbst 1942 nach New York fliehen musste und der in dem präsentierten Brief an Pasternak von 1958 von seinem Freund Fischer spricht, bei dem es sich natürlich um Gottfried Bermann Fischer handelt, der wiederum Doktor Schiwago noch im selben Jahr bei S. Fischer als deutsche Erstausgabe herausbringt – das sind die Geschichten, die in einem einzigen Brief so viel über das Leben und Arbeiten im Exil erzählen.

Der Band ist bibliophil gestaltet, mit schönen, farbigen Faksimiles aller vorgestellten Korrespondenzstücke. Das ist nicht bloß ein erfreuliches Detail am Rande, die Faksimiles zeigen die sich verändernde Materialität des Exils und sind eine kleine Kommunikationsgeschichte für sich: von Schillers handschriftlichem Schreiben zu den maschinengeschriebenen Briefen und Telegrammen bis zum 2022 über das Internet übermittelten Brief von Can Dündar. Die Briefmarken und Poststempel, die Adressen großer amerikanischer Hotels auf den Briefköpfen erzählen eine eigene Geschichte. Die Form hat sich in den 240 Jahren, die zwischen dem ersten und dem letzten Brief liegen, geändert, die Inhalte, die Ängste und Hoffnungen; der Verlust von Heimat und Sprache, bleibt gleich, was der Band eindrücklich vor Augen führt.

Titelbild

Deutsches Literaturarchiv Marbach (Hg.): S.O.S. Exilbriefe aus dem Deutschen Literaturarchiv.
Schiller-Nationalmuseum Deutsches Literaturarchiv, Marbach am Neckar 2022.
288 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783944469683

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