Der Kern atomarer Realitäten
John Herseys Reportage „Hiroshima“ (1946)
Von Christian Chappelow
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWenige Wochen nach dem Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine sorgte der ehemalige japanische Premierminister Abe Shinzô (1954-2022) in einem Fernsehinterview für Aufsehen. Seine Aussage, Japan könne ähnlich Deutschland die nukleare Teilhabe mit amerikanischen Atomwaffen anstreben, wurde breit diskutiert. Kritik kam, wie beispielsweise die Tageszeitung Asahi Shimbun am 1. März 2022 berichtete, auch von hibakusha – den letzten Überlebenden der amerikanischen Atombombenabwürfe auf die Großstädte Hiroshima und Nagasaki zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Auch 2022, bald 80 Jahre nach „Hiroshima“ und „Nagasaki“, bleibt die Erinnerung an diese Ursprungskatastrophen des atomaren Zeitalters ein sozio- wie sicherheitspolitischer Streitpunkt in der japanischen Öffentlichkeit und Politik. Die japanische Beziehung zum ehemaligen Kriegsfeind, zur späteren Besatzungs- und dann Schutzmacht USA, scheint im Zeichen zeitgeschichtlicher und sicherheitspolitischer Perspektiven immer neu bestimmt zu werden.
Eine frühe Episode dieser Bestimmung japanisch-amerikanischer Verflechtungen nach 1945 zeigt sich symbolhaft in der Reportage Hiroshima (1946) des Schriftstellers und Kriegsreporters John Hersey (1914-1993), die nun 2023 durch die Übersetzung von Justinian Frisch und Alexander Pechmann in neuer Auflage beim Verlag Jung und Jung vorliegt. Ergänzt ist diese Edition um ein 1985 verfasstes Kapitel über die Spätfolgen der Bombe. Hersey reiste im Mai 1946 nach Hiroshima und sammelte kein Jahr nach dem Atombombenabwurf Erfahrungsberichte von sechs Überlebenden, trotz Widerstand der amerikanischen Besatzungsbehörden. Was seitens des Verlagstexts als eine der wichtigsten journalistischen Arbeiten des 20. Jahrhunderts beworben wird, ist in der Tat ein Meilenstein der öffentlichen Wahrnehmung über das menschliche Zerstörungspotential im Atomzeitalter.
„Ein Blitz ohne Donner“ – Berichte über den ersten Einsatz von Atomwaffen
Da zerriss ein grauenvoller Lichtblitz den Himmel. Tanimoto erinnerte sich genau, dass der Blitz von Osten nach Westen ging, von der Stadt nach den Bergen. Es schien ein flammendes Stück Sonne zu sein […] Tanimoto machte vier, fünf Schritte und warf sich im Garten zwischen zwei große Felsblöcke. Er stieß mit dem Bauch hart auf einen Felsen. Da nun sein Gesicht an dem Stein lag, sah er nicht, was sich ereignete. Er spürte einen plötzlichen Druck, dann regnete es Holzsplitter und Holzstücke und Bruchstücke von Ziegeln über ihn.
Die menschlichen Begegnungen, die Hersey während seiner Hiroshima-Reise macht, erzählen von zahlreichen Facetten des Atomaren, die auch spätere literarische Schilderungen im Rahmen der japanischen Atombombenliteratur (genbaku bungaku) prägen werden: Es geht um die Unvorstellbarkeit und sprachliche Undarstellbarkeit des Erlebens des historisch singulären Ereignisses „Hiroshima“, die anatomische und moralische Deformation des Menschlichen, die problematische medizinische Versorgungslage sowie den Kampf um Information und die Anerkennung von Strahlenkrankheiten. Der Bericht schildert zudem die Unfähigkeit der Betroffenen, die Ereignisse von einem moralischen Standpunkt aus zu betrachten, was sich stellenweise geradezu als Kritik an der japanischen Gesellschaft liest. So meint beispielsweise der Chirurg Sasaki Terufumi bei seiner Arbeit im Rot-Kreuz-Spital: „Die Betreuung der Toten, die anständige Verbrennung und Verwahrung der Asche, bedeutet für den Japaner eine größere moralische Verantwortung als die angemessene Sorge um die Lebenden.“ (S.89-90) Lange Zeit bleibt für die Bewohnerinnen und Bewohner Hiroshimas (und drei Tage später Nagasakis) unklar, was sie eigentlich im August 1945 ohne Vorwarnung getroffen hat. Die Atombombe wird im ersten Schritt der menschlichen Erfahrung etwas Undefinierbares, ein „Blitz ohne Donner“.
Berichte wie der vom Reverenden Tanimoto, der den Band eröffnet, sind wichtige journalistische Aufklärungsarbeit über die in den ersten Nachkriegsjahren von der amerikanischen Besatzungsbehörde verschlossene Blackbox der Atombombe. Sie sind historisch relevante Zeugnisse über Krieg im 20. Jahrhundert, deren Aktualität bis heute nicht nachgelassen hat. Hersey präsentiert dabei Individuen, man möchte fast sagen Charaktere, mit literarischem Flair. Man lernt Tanimoto beispielweise nicht als eine anonyme Stimme unter vielen kennen, sondern begegnet dem jungen Familienvater als „kleinen Mann, der gern sprach, schnell lachte und leicht weinte“, mit besonderer Aufmerksamkeit für sein Leben, seine Art und sein Äußeres. Zwei Intentionen kann man diesem Schreibstil attestieren: Hersey berichtet als amerikanischer Journalist offensichtlich entgegen der Zensur über die Folgen der Atombombe und entanonymisiert die über 100.000 Toten. Gleichzeitig tritt er, und das ist zu dieser Zeit ähnlich bemerkenswert, gegen die in den 1940er Jahren auch nach Kriegsende noch gängigen, und nicht selten von Rassismus verstärkten, anti-japanischen Feindbilder ein. Den japanischen Opfern der Atombombe wird ihre volle Menschlichkeit im Angesicht des Unmenschlichen zugesprochen. Informationen, wie dass Tanimoto selbst ein Amerika-Fan war und in die USA gereist war, gibt den militärischen Massenmorden im Weltkrieg, dem stereotypen Feindbild und auch dem Konkurrenzkampf von Nationen und Nationalitäten eine gewisse zum Nachdenken anregende Pointierung. Hersey begeht eine gelungene und wegweisende Gratwanderung zwischen journalistischer Informationssuche und literarischem Effekt, die auch auf inhaltlicher Ebene den unwirklichen wie fiktiven Charakter der Situation unmittelbar nach dem Bombenabwurf sowie den sukzessiven Informationsfluss unter den Einwohnern Hiroshimas widerspiegelt. Der konstante und teils abrupte Wechsel in der Perspektive erzeugt zudem ein verwirrendes und chaotisches Bild. Auch auf den Gegenstand des Buches selbst wird innerhalb der Erzählung immer wieder Bezug genommen. Pater Cieslik, eine innerhalb des Werks auftretende Person, sagt hierzu an einer Stelle: „Erst wollte ich meine Bücher mitnehmen, und dann dachte ich: Das ist keine Zeit für Bücher.“
„Die Einzelheiten werden untersucht“ – Kampf um Information
General MacArthurs Hauptquartier zensierte systematisch jede Erwähnung der Bombe in wissenschaftlichen Publikationen aus Japan, aber bald wurde das Ergebnis der Berechnungen von Wissenschaftlern Gemeingut unter japanischen Physikern […] Lange bevor man es der amerikanischen Öffentlichkeit mitgeteilt hatte, wussten die meisten japanischen Wissenschaftler und sehr viele Laien in Japan […], dass in Hiroshima eine Uranbombe explodiert war, und eine kräftigere, eine Plutoniumbombe, in Nagasaki.
Ähnlich wie frühere Texte der japanischen Atombombenliteratur – man denke beispielsweise an die Gedichte des Strahlenopfers (hibakusha) Hara Tamiki – stellt auch für Hersey das Schreiben über die singuläre anatomische wie moralische Zersetzung des Menschlichen in der Atombombe Fragen an die Deutungshoheit und die sprachlich-symbolische Rekonstruktion verlorener Kohärenz. Die Gesamtkomposition der Berichterstattung Herseys beinhaltet eine menschlich-multiperspektivische Annäherung an den Kern der atomaren Erfahrung, die die Grenzen der (nationalen) Zuordnungen, der Feindbilder und symbolhaften Ordnung überschreiten: Ärzte, die selbst zu Opfern werden und sich nicht um ihre Patienten kümmern können; ausländische Opfer der Atombombe wie der deutsche Pater Wilhelm Kleinsorge, dessen Existenz in Japan nicht hinterfragt wird, sondern sich auf natürliche Weise in das Gesellschaftsbild Hiroshimas einfügt und durch dessen Arbeit als Vertreter der christlichen Kirche innerhalb der Erzählung zudem Konflikte mit und Zweifel an Glauben, Gott und Religion nach den Geschehnissen des Zweiten Weltkriegs thematisiert werden; japanische Amerika-Liebhaber wie Tanimoto, die von einer amerikanischen Bombe getroffen werden; und schließlich auch die Rolle eines amerikanischen Journalisten, der die japanische Perspektive so erstmalig in einem scheinbaren Dilemma zwischen Täter und Opferschaft publik machen möchte. All dies tritt der menschlichen Anonymisierung des „Anderen“ und einer kriegs- und frühnachkriegszeitlichen staatlichen Propaganda scheinbar entgegen, und zeigt die Notwendigkeit journalistischer Recherche im Kampf um die Information. Lange Zeit waren die Details des Atombombenabwurfs, die Opferzahlen und auch die möglichen Behandlungen zensiert oder öffentlich tabuisiert.
Zum Schluss
Am 1. März 1954 geriet die Lucky Dragon Nr. 5 in einen radioaktiven Niederschlag nach einem amerikanischem Atombombentest auf dem Bikini Atoll.
Am 18. Mai 1974 führte Indien seinen ersten Atombombentest durch.
Die Selbstpositionierung Herseys als Aufklärer über die Atombombe und das anonyme Sterben im Weltkrieg beschert ihm eine transnationale und zeitlose Bedeutung als Dokumentar der Gräueltaten des 20. Jahrhunderts und des Atomzeitalters. Auch das 1985 veröffentlichte Zusatzkapitel verdeutlicht diesen Appell und spiegelt zugleich die Angst des Autors wider, dass die Ereignisse in Hiroshima in Vergessenheit geraten könnten. Dabei wird der übergreifende Kontext zwischen den Atombombenabwürfen in Japan und der Realität des Kalten Krieges sowie dem Potential der atomaren Apokalypse hergestellt. Hersey durchbricht den Stil der vorherigen Kapitel mit Einschüben über das aktuelle atomare Zeitgeschehen und verleiht dem Werk auch dadurch bis heute eine unverminderte Relevanz. Bereits 1949 erscheint eine japanische Übersetzung, die, wie man nachliest, nie außer Druck gegangen ist.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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