Vir mirabilis, es lebe Johannes Gutenberg!

Der Sammelband „Von Gutenberg zum World Wide Web“ feiert den Mainzer Erfinder und antizipiert das Buch und den Literaturbetrieb der Zukunft

Von Jörn MünknerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörn Münkner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Mainz wurde im vergangenen Jahr (2022) die Neugestaltung des Gutenberg-Museums beschlossen. Aus diesem Anlass hat Stephan Füssel fünf Beiträge zur weitstrahligen Bedeutung Johannes Gutenbergs und seiner Erfinderleistung zusammengestellt. Im kurzen Vorwort, passend auf das Johannisfest 2022 datiert (seit 1968 wird in Mainz rund um den Johannistag am 24. Juni an den berühmten Sohn der Stadt erinnert), rekapituliert der Herausgeber die Geschichte des Museums seit 1900. Dazu verweist er auf die gute Zusammenarbeit von Universität, Stadt, Internationaler Gutenberg-Gesellschaft, Gutenberg-Stiftung und Gutenberg-Museum, die sich gemeinsam um das Erbe ihres Stadthelden bemühen und nun das Museum ideell und finanziell für die Zukunft fit machen wollen.

Seit vielen Jahren über Gutenberg und die Buchgeschichte forschend, umkreist Füssel im eigenen Vollbeitrag die historische Figur des gebürtigen Mainzers Henne Gensfleisch zur Laden, genannt Gutenberg. Trotz spärlicher Faktenlage weisen die Spuren nach Straßburg, wohin Gutenberg 1434 zieht, um dort mit einem Team von Tüftlern das „Werk der Bücher“ als Geheimunternehmen zu starten. Genial sind die Synergie unterschiedlicher Kompetenzen (Drechsler, Fachleute für Metalllegierungen und Tinten, Papiermacher, Finanzbeschaffer), die funktionale Adaption der aus der Weinherstellung bekannten Spindelpresse für den Druckvorgang und die sich aufdrängende serielle Produktionsweise. Straßburg dient als Kreativzentrum, im heimatlichen Mainz 14 Jahre später erfolgt schließlich die Präzisierung der Technik zur Marktreife in Partnerschaft mit dem Geldgeber Johannes Fust.

Tatsächlich ist die ‚Schwarze Kunst‘ ein komplexes System, bestehend aus Patrizen und Matrizen und dem essenziellen Handgießinstrument, das es erlaubt, eine beliebige Anzahl von homogenen Lettern zu reproduzieren; hinzu kommen Setzkasten, Winkelhaken, spezielle Drucktinte und Druckballen, schließlich die Presse mit schiebbarem Karren und Deckel, Tiegel und Pressbengel. Die Handschritte und Geräte zu entwickeln, ist das eine, sie darüber hinaus aber auch in einen funktionierenden Workflow zu implementieren, das andere – und umso beachtlicher.

Nach wie vor wirkt es beeindruckend, wie treffsicher sich Gutenberg als erste Anwendung für das Buch der Bücher, die lateinische Vulgata (in einer kritischen Textausgabe als Vorlage!), entscheidet, welche gestalterische Meisterschaft seine B 42 erreicht, wie gekonnt er als Verkäufer und Entrepreneur agiert, wie rasant sich die Erfolgsgeschichte der ersten gedruckten Bibel fortsetzt und wie schnell die neue Vervielfältigungstechnologie Akzeptanz erfährt.

So gründen sich Schlag auf Schlag Offizinen: 1460 in Bamberg und Straßburg, 1465 in Rom, 1469 in Venedig, 1470 in Paris, 1471 in Mailand, 1476 in London, 1483 in Stockholm, 1488 in Prag und 1503 auch schon in Istanbul. Innerhalb von etwas mehr als einer Generation etabliert sich die Druckerpresse in ganz Europa, die Zeitgenossen nehmen die Dynamik durchaus wahr, allerdings ohne die Druckerei anfangs als etwas anderes zu begreifen als eine Kunst des schnellen Abschreibens, eben als ein Schönschreibhandwerk – sehr wohl aber auch als medientechnischen Geniestreich.

Füssel bietet keine neuen Forschungsergebnisse, sondern schöpft aus Bekanntem. Das ist in Ordnung, denn könnte in diesem halb-panegyrischen Sammelband Gutenbergs Person und ein Resümee seiner großen Leistung fehlen? Nein, die Vita des Mannes ist ein Muss, und als nationaler wie internationaler Wegbereiter darf auch die biographisch-meritorische Dauerschleifenauskunft sein, gerade wenn sie konzis präsentiert wird. Und wer weiß: Vielleicht ist geplant, dass der Band als ‚Nimm mit‘ im Übergangsmuseum ausliegt. Interessierten Besucherinnen und Besuchern wird er gerade recht sein.

Jürgen Wilke beschäftigt sich mit dem Wechselverhältnis von Buch und Zeitung. Da die beiden Medien (ursprünglich) mit Hilfe der Drucktechnik hergestellt wurden, verbindet sie auch eine fast gleich lange Geschichte. In wenigen Strichen wird ausgeführt, wie sich die Gutenberg’sche Technik bald nach dem ersten Einsatz im religiösen Bereich auch säkularer Texte annimmt. Diese Gegenstandserweiterung bewirkt eine Diversifizierung des Printrepertoires; Schulbücher, Kalender, philosophische und literarische Werke befüllen die Artikellisten der Offizinen.

Am Anfang des 16. Jahrhunderts (erster Nachweis 1502) ist dann auch ein Medientyp darunter, der fortan als Zeitung bezeichnet werden wird. Aus den anfangs so betitelten Newen zeytungen, die so aktuell wie möglich über Ereignisse in der ganzen Welt berichten, etabliert sich ein Jahrhundert später die Zeitung im eigentlichen Sinn, sprich das regelmäßig erscheinende Nachrichtenmedium (Kriterium der Periodizität, frühestes Beispiel 1605). Über lange Zeit wurde kein kategorialer Unterschied zwischen Buch und Zeitung gemacht, weil ihre gemeinsame Abstammung und die Ähnlichkeit in der Erscheinungsform die funktionalen Unterschiede verdeckten. Eine medienfunktionale Differenzierung fand im Grunde genommen erst im 20. Jahrhundert statt, als die Zeitungswissenschaft ihren Gegenstand reklamierte.

Aufschlussreich ist der Schnellschritt durch die Zeit, wenn die Zeitung als Mittel der Buchwerbung, Organ der Buchkritik und Publikationsort für Bücher (etwa Zeitungsromane) Kontur annimmt; schließlich, wie sich Buch und Zeitung als E-Book bzw. E-Paper schlagen, wenn sie nicht länger materiell auf Papier, sondern auf Lesegeräten daherkommen. Es stellt sich die Frage, ob sich die immer schon begrenzte Lebensdauer der Zeitung (die Halbwertszeit von Büchern ist schlicht länger) im digitalen Format verändert.

Holger Böning geht in seinem Beitrag von der mittlerweile unstrittigen Tatsache aus, dass „jede Breitenwirkung der Aufklärung ohne Gutenbergs Erfindung und ohne einen in deren Folge explodierenden Markt für Druckwerke jeder Art nicht vorstellbar“ sei. Schon in der Anfangszeit der Druckeinführung kommen zu den religiösen Werken säkulare Texte wie ABC-Bücher und Fibeln hinzu. Zum populärsten weltlichen Druckmedium avanciert der Kalender, der später auch zu den ersten Informationsträgern gehören wird, die zur Popularisierung der Aufklärung genutzt werden.

Böning dekliniert die populären Druckmedien, erwähnt die Flugschriftenliteratur, die Messrelationen und Zeitungen sowie die sich aus Letzteren herausbildenden Zeitschriften, die die Leserschaft seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts mit Neuigkeiten und ‚Diskursware‘ aus der Welt der Politik und der Wissenschaften informieren. Die Popularisierungsanstrengungen in der fortgeschrittenen Frühneuzeit erweitern den Publikationsmarkt enorm, allein die Typenvielfalt unter den Periodika verdient genauere Betrachtung.

Da der Fokus das Aufklärungsjahrhundert ist, beschreibt Böning in Folge solche Medien, die dezidiert den Leserkreis ansprechen, der von den Zeitgenossen als „Volk“ bezeichnet wurde „und aus Menschen bestand, die in der ständischen Gesellschaft in der Regel von höherer Bildung ausgeschlossen waren“. Dazu gehören mehrere tausend Schriften, die neue wissenschaftliche Erkenntnisse aus den Naturwissenschaften zur Nutzung im Alltagsleben kommunizierten, und solche, die ein Leben nach Grundsätzen der Vernunft und auf der Grundlage zu prüfender Argumente popularisierten.

Fest steht, dass die deutsche Aufklärung keineswegs vorwiegend Selbstaufklärung der Eliten war, sondern dass zwischen 1750 und 1850 mehr als 3.000 Autorinnen und Autoren rund 10.000 Schriften verfassten, deren Anliegen es war, für ‚einfache‘, das heißt eben nicht zur Elite gehörende Leserinnen und Leser Aufklärungsarbeit zu leisten.

Gerhard Lauer nimmt den Literaturbetrieb unter der Prämisse in den Blick, dass schon jetzt, sicherlich aber bald, alles anders werden wird. ‚Alles anders‘ kann den gewaltigen Effekt der digitalen Transformation allenthalben meinen, aber auch den damit einhergehenden vermeintlichen Niedergang von Buch und Lesen. Letzteres wird von der Statistik indessen nicht bestätigt, im Gegenteil: Das globale Buchgeschäft erlebe die beste Zeit seit seinem Bestehen, also seit mehr als 500 Jahren, weiß Lauer den Chef des größten Publikumsverlagskonzerns der Welt zu zitieren.

Zahlen und Statistiken sind das eine, die Buch- und Lesewirklichkeit das andere. Die Analyse sowohl der Buchproduktion und Verkäufe als auch des Leseverhaltens und vor allem der kontinuierlich anwachsenden autarken, autonomen, ‚undisziplinierten‘ Schreibpraktiken der literarisch Aktiven gerade in den digitalen Foren zeigt, dass sich der Zugang zur Literatur sowie die Definition dessen, was als Literatur gilt, ändern. Die Tatsache, dass die unterschiedlichen digitalen Plattformen einen ungeahnten Perspektivreichtum vom Trivialen bis zum Elaborierten erlauben und gerade junge Leute im Netz zusammenkommen, um sich über Literatur auszutauschen oder sie erst zu kreieren, sorgt für eine Ausweitung, wenn nicht Explosion dessen, was man als literarische Betriebsamkeit bezeichnen kann.

Neben den unzähligen sozialen Plattformen, die die herkömmlichen Literatureinsätze quantitativ wie qualitativ verändern, sorgen schließlich Selbstpublikationsverlage und -initiativen dafür, dass jenseits des etablierten Literaturbetriebs neue Titel und neue Autorinnen und Autoren einen weiteren, anderen Markt mit eigenen Gesetzmäßigkeiten hervorbringen. Das Fazit beziehungsweise das Zwischenfazit lautet: Büchermachen und Lesen sowie die Betriebsamkeit um sie herum hören nicht auf, verändern sich aber. Wo genau die Entwicklung hinführt, ist nicht absehbar, die Vielfalt jedenfalls nimmt zu.

Jeff Jarvis denkt schließlich im letzten Beitrag auf Englisch über die Konsequenzen nach, die das im Vergleich mit der Durchsetzung des Gutenberg’schen Buchprinzips sehr junge World Wide Web nicht nur für die Kommunikations- und Verständigungskultur, sondern für das menschliche Zusammenleben insgesamt haben mag. In der ‚Gutenberg-Dämmerung‘, in der wir uns befinden und in der sich so viel verändert (anstatt Bleisatz Ink-Jet-Texte und Bilder, anstatt Druckmaterialitäten flüchtige, dennoch speicherbare Bits und Pixel auf Platinen), sei es Zeit, „to look back to look forward“.

Ist das noch ein Buch, das ohne herkömmliche Bindung und Deckel/Cover daherkommt, fragt Jarvis. Ist das noch eine Zeitung, die sich mit dem pulsartigen Anrauschen von Nachrichten aus aller Welt permanent reaktualisiert? Jarvis korrigiert sich selbst, indem er über diese Fragen stolpernd die Aufmerksamkeit auf die Tatsache lenkt, dass neue Medien(macher) zunächst alte Medien(macher und -zustände) kopieren – das ist die Regel. Nicht anders verhielt es sich mit Gutenberg, der mit seiner Schönschreibmaschine zunächst handgeschriebene Texte so schön wie möglich und idealiter noch schöner als im Original kopieren und vervielfältigen wollte, nicht mehr. Entsprechend verfrüht sind alle Behauptungen, wir wüssten bereits gut und genau, wie das Internet funktioniere und vor allem, was es an Funktionsentwicklungen noch parat halte.

Ein wesentlicher Punkt von Jarvis, der eine zuversichtliche Perspektive auf die weltumspannende digitale Vernetzung einnimmt, betrifft die Diskrepanz der Verlautbarungsqualitäten im Netz. In der Tat findet sich dort so viel Unqualifiziertes, weil auf einmal jeder, der ‚connected‘ ist, sprechen darf. Was bei der Entwicklung des Netzes nicht mitberücksichtigt wurde, ist unter anderem der Bedarf, auch richtig und gut zuzuhören. Kurz: „[O]nly when speaking is matched with listening on the net can we engage in conversation. Only when we relearn the skill of conversation can we hold the proper debate […].“ Jarvis plädiert für nicht weniger als eine ethisch grundierte, nicht-kommerzielle Internet-Hygiene. Für deren Umsetzung könnten „some distributed, intelligent, human web of future critics, scholars, experts, and peers, aided by technology, to seek out and recommend the best“ Sorge tragen.

Klingt das aber nicht utopisch? Womöglich ist Utopie die stärkste, vielleicht sogar die einzige Kraft, die das ausufernde Internet mit den tagtäglich zunehmenden, das alltägliche Leben regulierenden Anwendungen, social networks und kommerziellen Dienstleistern, aber auch kolossalen Wissensressourcen, Lernrepertorien und demokratischen Foren retten und zum Guten wenden kann. Ein utopisches Denken, das wünscht, das Netz der Zukunft möge das Mediensystem werden, in dem Menschen sicher nie gänzlich voraussetzungslos, aber mit geringem Aufwand und vor allem frei miteinander kommunizieren. Und das Buch, was wird aus ihm? Das, so Jarvis, sei unsterblich, es werde – in welcher Aufmachung auch immer – uns weiter begleiten.

Der Band wertschätzt Gutenberg und seine Erfindungen, er zieht eine vorläufige Bilanz bezüglich der aktuellen Kommunikationsmedien im Zuge der digitalen Transformation und wagt eine vorsichtige Prognose für eine zukünftige Verständigungskultur unter den Bedingungen der ubiquitären Medienverschaltung im Internet. Von Medienrevolution ist die Rede – so betrachtet, war Gutenbergs Buchdruck nach der Erfindung der Schrift im 4. Jahrtausend vor Christus die zweite Revolution, auf die wohl jene dritte folgt, zu deren Zeugen wir im Zeitalter der Omnipräsenz leistungsstarker Computersysteme werden. Die historischen Medienumbrüche vom Körper- zum Schriftgedächtnis und vom Buchdruck zur elektronischen Gedächtniskultur miteinander in Beziehung zu setzen, lässt Unterschiede, aber auch Parallelen und wechselseitige Abhängigkeiten der medialen Funktionalitäten deutlich werden – eine Unternehmung, die sich lohnt.

Füssel und die Autoren fokussieren auf Gutenberg, nehmen ihn und die Umstände seiner Zeit aber zugleich als Ausgangspunkt, um einen mediengeschichtlichen Bogen von der Straßburg-Mainzer ars artificialiter scribendi bis in die Netzwerkwelt der algorithmischen Codes zu schlagen. Gutenberg steht in einer Reihe mit mittelalterlichen Skriptoren und Illuminatoren, frühneuzeitlichen Zeitgenossen wie Anton Koberger und Albrecht Dürer und modernen Medienerfindern wie Henry Mill, Guglielmo Marconi und Steve Jobs. Und doch sticht er heraus, weil sein Name unlösbar mit dem verbunden ist, was unsere Kultur seit 550 Jahren ausmacht: dem gedruckten Buch. Um dessen Zukunft steht es gemäß Gerhard Lauer gut und besser, allerdings wohl nicht im Sinne des traditionellen Papierdruckbands, sondern eher als dynamisch-interaktives Produkt im digitalen Gewand. Ganz sicher kann man sich dessen aber nicht sein, denn bereits die Vorhersage in den frühen 1990er-Jahren, das Ende des Buch-Zeitalters sei nah, hat sich als Unkenruf erwiesen.

Fest steht indes, dass das Erbe Gutenbergs trotz aller Gestaltwandlungen und Funktionserweiterungen lebendig und nachhaltig ist. Die kulturgeschichtliche Bedeutung des Buches lässt sich nicht treffender als mit einem Bonmot von Umberto Eco auf den Punkt bringen, den Jeff Jarvis zitiert: Das Buch ist wie das Rad, einmal erfunden, kann es nicht verbessert werden.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Stephan Füssel (Hg.): Von Gutenberg zum World Wide Web. Aspekte der Wirkungsgeschichte von Gutenbergs Erfindung – zur Neukonzeption des Mainzer Gutenberg-Museums.
Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2022.
114 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783447119320

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