Semyon Gluzmans Kampf um die Behauptung seiner Integrität
„Angst und Freiheit“ von Semyon Gluzman ist ein Lehrstück über den Stalinismus – und dessen Wiederauferstehung als Putinismus
Von Bernd Nitzschke
„Dies alles ist Vergangenheit. Es gibt […] kein Komitee für Staatssicherheit mehr […]. Aber ich schreibe über die Vergangenheit, weil ich wirklich nicht mehr möchte, dass sie wieder hervorkriecht, […] denn so ganz weit entfernt davon sind wir mit Putins Russland als Nachbarn [heute, 2015, in der Ukraine – B.N.] nicht“ – schrieb Gluzman vor Jahren. Das waren Wünsche, aber auch prophetische Worte. Als Gluzmans Buch 2020 in deutscher Übersetzung erschien, fügte er in einem Brief an den Herausgeber hinzu, es sei „kein bloßes Buch der Erinnerungen. Mein Wunsch war es ebenfalls nicht, nur die nackten Fakten zu präsentieren. Für mich war es vielmehr bedeutsam, die ganze Bandbreite der Emotionen aufzuzeigen. Und die Verrücktheit der sowjetischen Macht, die einfache Intellektuelle zu ihren Feinden machte.“ Inzwischen ist die Vergangenheit Gegenwart und Gluzmans Buch aktueller denn je.
Am 11. März 2022 überfielen die Erben der verrückten sowjetischen Macht die Ukraine. Warum? Die Russische Föderation wird heute von einem mafiösen Clan unter Vorsitz eines früheren Hinterhofschlägers und KGB-Offiziers aus dem vormaligen Leningrad beherrscht, der die Regeln bestimmt, nach denen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden sind. Warum sollten die Zivilisten, die leblos in Butscha auf der Straße lagen, nicht Schauspielern gewesen sein, die sich totstellten, um die Legitimation der ‚militärischen Spezialoperation‘ in Zweifel zu ziehen, die notwendig wurde, weil die ‚Faschisten‘ in Kiew einen Völkermord an der russischen Bevölkerung der Ostukraine planten? Der Angriff auf die europäische Friedensordnung wird entsprechend begründet: als Notwehrreaktion, die sich gegen einen von langer Hand vorbereiteten Versuch der USA gerichtet habe, die mit Hilfe eines Stellvertreterkriegs in Europa ihre geostrategischen Interessen durchzusetzen versuchten. Und warum müssen deshalb ukrainische Zivilisten – darunter der 96jährige Holocaust-Überlebende Boris Romantschenko – in Wohnhäusern von russischen Marschflugkörpern umgebracht werden?
Im Juni 2022 wurde Maxim Butkewitsch, der sich als Freiwilliger an die Front gemeldet hatte, um sein Land zu verteidigen, in der Ostukraine gefangen genommen. In russischen Medien wurde er danach als ‚Nazi‘ und Teilnehmer des ‚Maidan-Putsches‘ verleumdet. Tatsächlich war er Gründungsmitglied des ZMINA Human Rights Center (https://www.arte.tv/de/videos/112707-000-A/ukraine-der-einsatz-fuer-die-menschenrechte/ – Aufruf: 09.07.2023). Als Menschenrechtsaktivist hatte er sich für die humane Behandlung von Flüchtlingen und gegen Rechtsradikale engagiert, von denen er deshalb in Wort und Tat angegriffen worden war. Im März 2023 wurde er unter dem Vorwand, gegen die Genfer Konvention verstoßen zu haben, von den Okkupanten seiner Heimat zu dreizehn Jahren Haft verurteilt. Geschichte wiederholt sich nicht? Vielleicht setzt sie sich einfach nur fort …?
„Wie eine Art Antwort fielen ihm die drei Wahlsprüche auf der weißen Front des Wahrheits-Ministeriums ein: Krieg bedeutet Frieden – Freiheit ist Sklaverei – Unwissenheit ist Stärke“ (George Orwell, 1984). Bei Gluzman heißt es dazu im Rückblick auf sein Leben in der Sowjetunion:
Warum weiß ich, dass Weiß Weiß ist, und warum wissen sie es nicht?“ Und: „Was war ich […]? Revolutionär? Terrorist? Ausländischer Spion? Was war meine Sünde, die mich ins Gefängnis gebracht hatte? […] Ohne über die Konsequenzen nachzudenken sagte ich: ‚Der König ist nackt.‘ […] Ich habe nie gelernt, ein neues Kleid an einem absolut nackten König zu sehen.
Gluzman erinnert an seinen Prozess:
1972 kam ich vor Gericht, und zwar in einer Verhandlung unter Ausschluss der Öffentlichkeit […]. Weder meine Eltern, erklärte Kommunisten, ehemalige Frontsoldaten und Stalin-Preisträger, noch mein Freund, der Schriftsteller Viktor Platonowitsch Nekrasov, niemand durfte den Gerichtssaal betreten. Ich wurde folgender antisowjetischer Tätigkeit beschuldigt: Verteilung von Schreibmaschinenkopien des Nobelpreis-Vortrags von Albert Camus, des Artikels von Heinrich Böll über Solschenizyn, des Romans von Vasily Grossman Alles fließt usw. […] Ein Jahr später war ich bereits ein klassischer sowjetischer Gefangener im politischen Lager WS 389/35 im Ural.
Man hat nach der Lektüre des Buches den Eindruck, dass es für traumatische Erinnerungen überhaupt keine Zeit gibt – und dass es für sie auch kein Vergessen geben darf. Für den Verfolgten sind seine Erlebnisse ohnehin zeitlos – und seinen Nachkommen hilft die Erinnerung, im neuen Unrecht das alte wiederzuerkennen. „Ich spreche jeden Abend mit den Toten. Ich komme zu ihnen, zu meiner Vergangenheit und höre still ihren Geschichten zu“, heißt es in einem der in knapp fünfzig Jahren (1973-2019) – teils während, teils nach der Haft – verfassten Texte. Vor Gluzmans Augen tauchen die Bilder seiner Mitgefangenen auf, „von Hunger verrückte Menschengespenster, die versuchten, letzte Fleischfasern an Knochen zu finden, die bereits von anderen Gefangenen abgelutscht und in den Müll geworfen worden waren“.
Das sind Bilder eines der Vernichtung Entronnen, die verdeutlichen, dass Erinnern oft die einzige Möglichkeit ist, Verfolgten, Gedemütigten und Ermordeten doch noch Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Im Fall Gluzmans heißt das: „Mein Großvater Abram, der in Babyn Jar erschossen wurde, erlaubt mir keine ‚Umbewertungen‘. In jedem September ist sein Geist empört, und ihr wisst, warum.“ Im September 1941 wurde Gluzmans Großvater mit mehr als 30.000 anderen Juden von den damaligen (deutschen) Besatzern in Babyn Jar erschossen, einer Schlucht, die sieben Kilometer nördlich des Stadtzentrums von Kiew liegt. Der Schriftsteller Viktor Platonowitsch Nekrasov (In den Schützengräben von Stalingrad, dt. 1954), der nicht am Prozess gegen Semyon Gluzman teilnehmen durfte, hatte in den 1960er Jahren eine Bürgerrechtsbewegung gegründet, die sich erfolgreich gegen den Plan richtete, die Babyn Jar Schlucht mit einem Sportstadion zu überbauen. 1976 wurde eine Gedenkstätte eingeweiht. Im März 2022 schlugen in deren Nähe russische Raketen ein. Präsident Selenskyj verurteilte diesen Angriff, der fünf Menschen das Leben kostete, als Anschlag auf die Geschichte der Ukraine: „Was nützt es, 80 Jahre lang ‚Nie wieder‘ zu sagen, wenn die Welt stumm bleibt, wenn eine Bombe auf die Stätte von Babyn Jar fällt?“ (https://www.spiegel.de/ausland/russland-ukraine-krieg-wolodymyr-selenskyj-verurteilt-angriff-auf-holocaust-denkmal-a-79682a47-19d7-4d66-916d-1ba804474f64 – Aufruf: 09.07.2023).
Warum wurde Semyon Gluzman zu sieben Jahre Straflager und drei Jahren Verbannung verurteilt? Er war sechsundzwanzig Jahre alt und Facharzt für Psychiatrie, als er im Samisdat anonym eine „Psychiatrische Fernexpertise über den Fall Grigorenko“ veröffentlichte, in der er der Behauptung widersprach, die von Psychiatern des Moskauer Serbski-Instituts aufgestellt worden war, wonach bei Pjotr Grigorenko eine „pathologische paranoide Persönlichkeitsentwicklung“ vorliegen sollte, aufgrund derer er als Geisteskranker in eine psychiatrische Anstalt einzuweisen sei. Grigorenko wurde im Zweiten Weltkrieg zweimal verwundet, hatte den Orden des Vaterländischen Krieges I. Klasse erhalten und war nach dem Krieg Professor für Kybernetik an der Militärakademie der russischen Streitkräfte in Moskau. Nachdem er den Stalinismus kritisierte, wurden ihm sämtliche Auszeichnungen aberkannt. Obgleich der KGB bei der Durchsuchung der Wohnung Gluzmans keine Dokumente finden konnte, die auf ihn als Verfasser der „Psychiatrische Fernexpertise über den Fall Grigorenko“ hingewiesen hätten, klagte man Gluzman an. Er wurde stattdessen wegen des Besitzes antisowjetischer Schriften (Camus, Böll usw. – siehe oben) verurteilt. Nach dem Ende der Diktatur erhielt er für seinen Beitrag zur Aufdeckung des Missbrauchs der Psychiatrie in der Sowjetunion zahlreiche Ehrungen, darunter den in Prag beim XIV. Kongress der World Psychiatric Association 2008 verliehenen Geneva Prize for Human Rights in Psychiatry. In einem Interview, das im Amnesty Journal (4/2023) erschienen ist, hat der 76jährige Semyon Gluzman über Erfahrungen im Gulag, missglückte Versuche der Psychiatrie-Reform in seiner Heimat sowie die traumatischen Folgen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine gesprochen (https://mcusercontent.com/8ec7ffb1ae657c2d7c4a4ef8a/files/ef014035-de2c-8869-cfb0-c73141398a05/Interview_Gluzman.pdf – Aufruf: 02.08.2023).
Als Gluzman im Februar 2022, also kurz vor dem Überall Russlands auf die Ukraine, gefragt wurde, ob Putin geisteskrank sei, antwortete er:
I am certain he is totally healthy. He has a very peculiar personality. Not that of a KGB officer. He’s different, sadistic, not thinking about other people, not even the Russian people, only himself. He has these predecessors like Hitler and Stalin. We can say they did bad things but that they didn’t do them because a voice told them to do it. They were evil doers. They were sadistic people. But they weren’t insane (https://newlinesmag.com/reportage/putins-war-of-the-mind/ – Aufruf: 09.07.2023).
Wenn man Stimmenhören als das Kriterium einer Geisteskrankheit voraussetzt, dann wären narzisstische Persönlichkeiten wie Putin, Trump, Erdoğan, Orbán oder Netanjahu mental ‚gesund‘,
Semyon Gluzman wurde 1946 in Berlin geboren. Seine Eltern waren als Ärzte der Roten Armee dort stationiert. Er wuchs später in Kiew auf und wurde ebenfalls Arzt. In einem seiner Texte heißt es über den Vater, er habe „Jiddisch und Hebräisch schreiben und lesen“ können, sei aber, wie die Mutter, nicht religiös gewesen. „Die Kultur, in der sie [die Eltern] aufwuchsen, war eher ukrainisch geprägt als jüdisch.“ Als junger Mann habe der Vater „mit einer Sondertruppe gegen die ‚Banditen‘ der aufständischen ukrainischen Bauern“ gekämpft und unter Stalin durfte er als noch linientreuer Kommunist einen „Zug mit Hunderten von vertriebenen ukrainischen Bauernfrauen nach Sibirien“ begleiten. Später distanzierten sich die Eltern von diesem Gewaltsystem mit pseudomarxistischem Anstrich. Hinfort lebten „Vater und Mutter […] in Angst“ und „voller Hass gegen die Sowjetmacht“. Und der Sohn? Wo ordnete er sich ein? „Aus Sicht der Anhänger ethnischer Reinheit bin ich ein Fremder. […] Aber ich habe kein anderes Land. Hier liegen meine Toten begraben. Und hier befinden sich meine Lebendigen. Ich bin Ukrainer.“
In der Haft trifft Semyon Gluzman immer wieder auf Menschen, mit denen ihn das Schicksal, nicht jedoch die politische Gesinnung verbindet:
,Waldbrüder‘ aus dem Baltikum, Partisanen des ukrainischen Widerstands, Nazi-Polizisten aus den von Deutschland besetzten Gebieten der UdSSR, Soldaten der ‚Kaukasischen SS-Legion‘, Juden, die mit einem entführten Flugzeug nach Israel hatten flüchten wollen, russische ‚Nationalpatrioten‘ […]. Eine selbstsame Welt, in der ich, ein sechsundzwanzigjähriger russischsprachiger Jude, der mit Thomas Mann, Fjodor Michailowitsch Dostojewski und Herman Melville aufgewachsen war, meinen eigenen Platz finden musste.
Ein Mitarbeiter des Komitees für Staatssicherheit stellte ihn zur Rede, nachdem er ihn in Gesprächen mit ‚nationalistischen‘ Staatsfeinden beobachtet hatte: „Gluzman, ich sehe, dass Sie nicht nur mit den ‚Ihrigen‘ sprechen. Sie reden mit Bandera-Anhängern, mit armenischen Nationalisten und mit Litauer […]“. Als Angehöriger einer verfolgten Minderheit solidarisierte sich Gluzman mit den anderen Verfolgten – und zwar ohne Rücksicht auf deren vergangene oder gegenwärtigen politische Überzeugungen.
Fast alle diese Menschen gehörten zur Kategorie der Nationalisten. Sie wuchsen in Bauernfamilien auf im traditionellen nationalen Umfeld der Ukraine, Litauens, Lettlands oder Estlands. Die Besonderheit der historischen Situation zwang sie, am nationalen Befreiungskampf teilzunehmen, was sie später ins Lager brachte.
Als Humanist und Weltbürger findet Gluzman seinen Platz jenseits aller ethnischen und politischen Grenzziehungen. Wie kommt er dazu?
In der Zone [dem Straflager] existierte gleich neben mir noch eine weitere Wahrheit, die mir zuvor völlig unbekannt gewesen war. Die Wahrheit der ‚Waldbrüder‘ aus den baltischen Staaten und der Partisanen der Ukrainischen Aufständischen Armee. Und ich […] musste dieses für mich neue Koordinatensystem erst verstehen und meinen eigenen Platz darin finden. Indem ich diskutierte, verglich, nachdachte und wieder nachfragte, begriff ich die Hauptsache: Sie alle hatten zu Hause gekämpft, in ihrem eigenen Land und für dieses Land. Diejenigen, gegen die sie gekämpft hatten, waren Fremde, Eindringliche, Besatzer, deren Absicht es war, sie als Menschen zweiter Klasse zu unterwerfen. Diese meine neue Wahrheit […] widersprach nicht jener Wahrheit über den Krieg [der Sowjetunion gegen Hitler-Deutschland], die mir meine Eltern […] vermittelt hatten, sondern ergänzte sie.
Die UdSSR ist untergegangen, doch der „Homo sowjeticus“, der von den Ideologen mit Hass auf alle als Feinde einer homogen phantasierten Gemeinschaft erzogen wurde, lebt weiter und „verurteilt mich wegen meines Mangels an Hass und Rachedurst“.
Einer der Vertreter der ukrainischen Unabhängigkeitsbewegung, dem Gluzman im Lager begegnet, heißt Vasyl Stus. Er schreibt Gedichte (Du hast dein Leben nur geträumt. Eine Auswahl aus der Gedichtsammlung Palimpseste. Hamburg, Gerold u. Appel, 1988) und übersetzt Texte von Goethe, García Lorca, Baudelaire u. a. ins Ukrainische. Er wurde mehrfach – u. a. „wegen verleumderischen Aussagen gegen die Jubiläumsfeierlichkeiten der KPdSU zum 100. Geburtstag des Gründers des Sowjetstaates“ – verhaftet und zu insgesamt dreiundzwanzig Jahren Lagerhaft und Verbannung verurteilt. Unter ungeklärten Umständen kommt er 1985 in der Haft zu Tode. Als offizielle Todesursache wird „Herzinsuffizienz“ genannt.
Als der „junge Judenbengel Gluzman“ (Gluzman zitiert mit dieser Bezeichnung die Wortwahl seiner Wächter) in die Zelle dieses ukrainischen ‚Nationalisten‘ verlegt wird, sieht er ihn mit einem Buch am Schreitisch sitzen. Der Neuankömmling fragt: „Was haben Sie da?“ Der Häftling antwortet: „Das ist Rilke. Ich übersetze es ins Ukrainische.“ Ja, man muss dieses Buch lesen, wenn man mehr über den Widerstand der Intellektuellen und Schriftsteller in der Sowjetunion, über die Geschichte, die Russland und die Ukraine verbindet, und über die Folgen von Haft und Folter erfahren will. Dabei erfährt man sehr viel über die große Welt und die Menschen:
Unsere kleine Zone war das Abbild der großen Zone, war ein großartiges Objekt, um die Fähigkeiten einer Person in diesem riesigen Meer des Totalitarismus studieren und erkennen zu können. ‚Sie‘ studierten dabei uns, wir ‚sie‘. Sie hatten Karzer, Besuchsverbot, Hunger und Kälte, um uns zu quälen, um uns zu brechen. Wir hatten das Wort. […] Das Wort ist ein Schrei.
In dem 2010 verfassten Schlusswort schreibt Gluzman: „Ich musste dieses Buch veröffentlichen, denn die Toten sind nicht mehr tot, wenn die Lebenden sie hören.“ Und schließlich formulierte er auch noch eine optimistische Aussicht: „Das riesige, blinde, grausame System war machtlos. Wir haben gewonnen. Wir sind immer noch Menschen.“ Das gilt auch für Alexej Nawalny, der einen Giftanschlag überleben, Putins Hass aber (noch) nicht entkommen konnte.
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