Vorbemerkungen zum Themenschwerpunkt „Literary Disability Studies“
Liebe Leser:innen,
in unserer August-Ausgabe widmen wir uns dem Themenkomplex „Literatur und Behinderung“ und insbesondere den „Literary Disability Studies“.
Als eigenständige inter- und multidisziplinäre Forschungsrichtung beschäftigen sich die Disability Studies mit der wissenschaftlichen Erforschung von Behinderung als sozial und kulturell konstruierter Differenzkategorie. Dabei begreifen Disability Studies Behinderung nicht etwa als den beeinträchtigten Körper an sich, sondern als Resultat dessen, was Gesellschaft, Kultur und Sprache daraus machen.
Entstanden sind die Disability Studies in den 1980er und 1990er Jahren in Großbritannien und den USA im Zusammenhang mit den politischen Behindertenbewegungen. Im deutschsprachigen Raum ist das Forschungsfeld vergleichsweise neu und existiert als solches erst seit 2002, auch wenn eine „dezidiert literaturwissenschaftliche Forschung zu Behinderung“ (Helduser 2022, S. 221) bereits seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu beobachten ist.
Literary Disability Studies setzen sich explizit mit der literarischen Thematisierung von Behinderung und Beeinträchtigung auseinander und untersuchen „die Art ihrer Darstellung sowie ihre Wirkungsweise in und für den Text genauer“ (Nowicki 2019, S. 11). Erforscht werden unter anderem die Konstruktion von Normalität und Abweichung, Gesundheit und Krankheit und damit verbunden auch Haltungen und Wertungen, wie zum Beispiel die Idealisierung von Stärke und Gesundheit. Nicht zuletzt haben Literary Disability Studies den Anspruch, gesellschaftliche Machtverhältnisse und Ungleichheitsstrukturen sichtbar zu machen.
Wir nähern uns dem vielseitigen Themenkomplex in unserer August-Ausgabe aus literaturwissenschaftlicher, kulturwissenschaftlicher, literaturkritischer und psychoanalytischer Perspektive: Sarah Maaß diskutiert in ihrem Essay Behinderung als ökologische Prothese. Nature Writing und Neurodiversität in aktueller (Kinder- und Jugend-)Literatur einleitend die literarische Verknüpfung von Figuren der Behinderung und ökologischer Programmatik anhand zweier jugendliterarischer Texte. Mit den subjektiven Erfahrungen Betroffener beschäftigt sich Gertrud Nunner-Winkler in ihrer Rezension von Bernhard Richarz‘ Buch Körperlicher Umbruch. Über das Erleben chronischer Krankheit und spät erworbener Behinderung.
Anschließend steht in Joachim Zelters Roman Professor Lear, rezensiert von Michael Fassel, ein renommierter Universitätsprofessor im Zentrum – der Intellektuelle erleidet nach seiner Pensionierung einen geistigen Verfall. Um einen Pfleger, der für eine Wohngruppe mit geistig und körperlich beeinträchtigten Menschen verantwortlich ist und schonungslos mit dem Pflegesystem abrechnet, geht es in Frédéric Valins Ein Haus voller Wände, ebenfalls rezensiert von Michael Fassel. Franziska Uphues bespricht überdies Antonia Baums Roman Siegfried, in dem die Protagonistin sich in einer psychiatrischen Klinik in Behandlung begibt, um dort ihre Familien- und Beziehungsprobleme aufarbeiten zu können.
Eine außergewöhnliche Arzt-Patienten-Beziehung führt Kurt Fleischs Debütroman Aibohphobia vor, besprochen von Kira Ehlis. Matthias Zschokkes Roman Der graue Peter, rezensiert von Rainer Rönsch, erzählt die Geschichte eines Mannes, dem ein Empfindungschromosom fehlt.
Ergänzt werden die Rezensionen um einen Hinweis auf den von Dennis Borghardt und Florian Lehmann herausgegebenen Sammelband Kann das weg? Literarisierungen des Defekten und Defizitären.
Viel Freude beim Lesen wünscht
Ihre Redaktion Gegenwartskulturen
Literatur
Helduser, Urte: Literatur- und Sprachwissenschaften in den Disability Studies. In: Handbuch Disability Studies. Unter Mitarbeit von Sarah Karim. Hrsg. von Anne Waldschmidt. Wiesbaden: Springer VS Verlag 2022, S. 219-234.
Luserke-Jaqui, Matthias: Vorwort. In: Literary Disability Studies. Theorie und Praxis in der Literaturwissenschaft. Hrsg. von Matthias Luserke-Jaqui. Würzburg: Königshausen & Neumann 2019, S. 7-8.
Nowicki, Anna-Rebecca: Raus aus der semiotischen Falle. Die Herausforderungen und Potenziale einer Disability Studies-Perspektive in der Germanistik. In: Literary Disability Studies. Theorie und Praxis in der Literaturwissenschaft. Hrsg. von Matthias Luserke-Jaqui. Würzburg: Königshausen & Neumann 2019, S. 9-44.
Waldschmidt, Anne/Karim, Sarah: Was sind Disability Studies? Profil, Stand und Vokabular eines neuen Forschungsfeldes. In: Handbuch Disability Studies. Unter Mitarbeit von Sarah Karim. Hrsg. von Anne Waldschmidt. Wiesbaden: Springer VS Verlag 2022, S. 1-18.
Wille, Lisa: Von Diskriminierung zu Intersektionalität, von den Disability Studies zu einer transdisziplinären Literaturwissenschaft. Oder: Die Krux der Normativität und die Notwendigkeit einer intersektionalen Perspektive. In: Literary Disability Studies. Theorie und Praxis in der Literaturwissenschaft. Hrsg. von Matthias Luserke-Jaqui. Würzburg: Königshausen & Neumann 2019, S. 115-148.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen