Not und Notwendigkeit der Erinnerungsarbeit
Zur Neuausgabe eines kanonisch gewordenen Poems von Johann Lippet aus der „Aktionsgruppe Banat“
Von Waldemar Fromm
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas Langgedicht gehört wesentlich zu modernen Formen lyrischen Sprechens, denkt man an T.S. Eliots The Waste Land von 1922. In der Bundesrepublik erscheint das Langgedicht in der Lyrik der 1960er und 1970er Jahre besonders attraktiv zu sein. Jürgen Becker oder Rolf Dieter Brinkmann mögen als Beispiele dienen. Als „Poem“ ist die Langform lyrischen Sprechens nicht untypisch für die Literaturgeschichte Osteuropas – erinnert sei an Anna Achmatowas Versnovelle Poem ohne Held, das 1963 erschienen ist und die Geschichte des Kommunismus aufrollt.
Johann Lippets Poem biographie. ein muster, in freien Versen verfasst, ist ursprünglich 1980 in Bukarest erschienen und 2023 vom Verleger Traian Pop, der sich mit seinem Verlag rührig um die internationale literarische Kommunikation zwischen Südosteuropa und Deutschland kümmert, neu aufgelegt worden.
Lippet wurde 1951 in Wels in Österreich geboren. Er ist das Kind einer 1945 in den Donbass deportierten und später aus der Sowjetunion nach Deutschland verbrachten und über die Grenze nach Österreich geflüchteten Banater Schwäbin sowie eines Mannes, der vor den vorwärts rückenden russischen Truppen aus dem Banat in Richtung Westen floh. Beide Elternteile trafen sich in der Nähe von Wels, heirateten und übersiedelten 1956 mit vier Kindern zurück in das Banat, in das Heimatdorf des Vaters im kommunistischen Rumänien – nicht aus politischen Gründen, sondern um zur Familie zurückzukehren.
Lippet erzählt, bei der Abfassung des Poems Mitte 20, in der Versbiographie auf etwa 90 Seiten seine Geschichte und diejenige seiner Eltern. Die Analyse der kommunikativen Situation im Gedicht wird erst zum Ende des Poems aufgelöst. Es handelt sich nicht um eine Selbstansprache. Zum Ende hin tritt ein Du in Erscheinung – mehr sollte in der Besprechung allerdings nicht verraten werden. Das lyrische Ich legt Rechenschaft ab, erklärt seine Herkunft und vergewissert sich durch sein Wahrsprechen seiner selbst. Es will dem Sozialismus ein menschliches Antlitz abringen und als Subjekt einen Platz finden. Im Gegensatz zu Achmatowas Poem hat dasjenige von Lippet einen Helden, genauer genommen: Es hat viele davon – alle wurden von den historischen Ereignissen des 20. Jahrhunderts fast bis zur Bewusstlosigkeit durchgeschüttelt. Die Figuren sind Überlebenskünstler und bleiben dennoch der Geschichte ausgeliefert.
Das Poem beginnt mit den Zeilen: „ich, johann lippet, bin nur indirekt aus dem banat. / meine mutter brachte mich in österreich zur welt, / wohin sie aus der sowjetunion gekommen war, und die frage / nach dem warum und wie wird sich mir noch öfter stellen.“ Aus der geographischen Irrfahrt droht eine topographische Ortlosigkeit zu werden. Es ist dies zugleich das Kernproblem, das das Poem vorantreibt.
Den Fragen nach dem Wie und Warum wird in nüchterner Faktizität nachgegangen. Es gibt keine Worte in diesem Poem, bei denen nicht für jede Wahrnehmung Realität hinterlegt ist und für jedes Ereignis Geschichte. Einen lyrischen Tonfall gewinnt es durch die Präzision, mit der das Faktische aufgebaut wird. Erwähnt seien nur die Zeilen, in der es nach der Schilderung des Todes des Vaters heißt: „ich fraß mich in meine bücher / und begann meine Gedichte mit schwarzer tinte zu schreiben / ich warf sie später dann ins feuer / und kam mir wie ein dichter vor“. Wer solche Zeilen schreibt, ist näher am lyrischen Ich denn am Erzähler, leiht sich jedoch vom Erzähler die Möglichkeit, das Faktische getreu wiederzugeben. Gleichzeitig wird er zum Teil der Geschichte, in der zu bestehen erst die genaue Benennung ermöglicht.
Zur Zeit der ersten Publikation im Jahr 1980 enthielt das Poem eine politische Provokation. Angesprochen wurden etwa die Verschleppung eines Drittels der rumäniendeutschen Bevölkerung nach 1945 in sowjetische Arbeitslager, zur sogenannten Wiederaufbauarbeit, die bedrohlichen Folgen der radikalen Enteignung der Deutschen und späteren Kollektivierung der Landwirtschaft sowie die Zwangsumsiedlung vieler Bewohner der grenznahen Region zum damaligen Jugoslawien zu Beginn der 1950er Jahre in die Bărăgan-Steppe. Die Thematisierung dieser historischen Eckpunkte musste für das kommunistische Rumänien wie eine Provokation erscheinen. Gleichwohl blieb die staatliche Reaktion zurückhaltend.
1983 erschien eine Übersetzung ins Rumänische. Das Poem wurde als Musterfall der rumänischen „80er Generation“ enthusiastisch aufgenommen. Ein Grund dafür mag der bedingte Schutz gewesen sein, den deutschsprachige Autoren damals im nationalkommunistischen Rumänien genossen. Das hoch verschuldete Land war im Osten isoliert und existentiell auf das Wohlwollen des Westens, insbesondere Deutschlands, angewiesen.
Im Nachwort erörtert Walter Fromm die Tabus, mit denen Lippets Text brach: Deportation, Verbannung, Enteignung und all die anderen Gräuel des kommunistischen Systems. Er schildert die Rezeption des Poems ausführlich und stellt die Wirkungsmacht autobiographischen Schreibens in Zeiten des Kommunismus heraus. Johann Lippet ist nur eine der Stimmen aus dem vielstimmigen Geschehen in der rumäniendeutschen Literatur in den 1970er Jahren. Gleichwohl lässt sich entlang seines autobiographischen Poems viel über die Grundbedürfnisse der „Aktionsgruppe Banat“ herauslesen, der heute in Deutschland bekanntesten Dichtergruppe aus der Region. Herta Müller hatte sie in ihrer Rede bei der Entgegennahme des Literaturnobelpreises als maßgebliche Einflussgröße für ihre Literatur beschrieben. Beim Verständnis der historischen Hintergründe, die das Poem aufruft, hilft neben dem Nachwort auch der instruktive Stellenkommentar, der Wissenslücken über Osteuropa in Zeiten des Kommunismus zu kompensieren hilft.
Aus der Sicht des Jahres 2023 handelt es sich bei biographie. ein muster um einen früh geglückten literarischen Beitrag zur Erinnerungsarbeit – eigentlich nicht nur der rumäniendeutschen Literatur. Sowjetische Arbeitslager, Flucht und Migration waren Folgen des barbarischen Kriegs, den das NS-System entfachte. Nach 1945 litt in Rumänien insbesondere die deutschsprachige Minderheit unter dessen Folgen. Lippets Poem ist ein literarischer Beitrag zur gesamten deutschsprachigen Erinnerungsarbeit.
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