Nach dem Kriegsverbrecherprozess zum Tanz in den Marmorsaal

Uwe Neumahr erzählt in „Das Schloss der Schriftsteller“, wie 1945 im Schloss Faber-Castell in Stein bei Nürnberg Weltliteratur auf Weltgeschichte traf

Von Nora EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer von Nürnberg aus über Röthenbach nach Stein fährt, hat sogleich mit der Ortseinfahrt linker Hand dieses wuchtige Schloss vor Augen. Es gehört der gräflichen Familie Faber-Castell samt der Fabrik für Bleistifte und anderes Schreibgerät hundert Meter dahinter, die die Familie seit dem 19. Jahrhundert reich gemacht hat. Über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten, und wir tun es trotzdem gerne. Ob wir diese nachgebaute Romantik aus der Zeit um 1900, kombiniert mit Neorenaissance eines älteren Gebäudeteils, schön finden oder nicht, ist am Ende unerheblich. Einer der Gäste des Jahres 1946 sprach von einer „German-Schrecklichkeit“. Immerhin hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts der bekannte Architekt und Inneneinrichter Bruno Paul an der Um- und Neugestaltung der Räumlichkeiten mitgewirkt.

Interessanter ist zweifellos dieses Detail aus der Geschichte des Gebäudes: Nach dem Zweiten Weltkrieg war das Schloss nämlich eine Zeit lang Pressezentrum, von wo aus über die Nazi-Verbrechen in alle Welt berichtet wurde. Uwe Neumahr hat den Arbeits- und Lebensalltag dort rekonstruiert. Mit dem Blick hinter die Kulissen zeigt er zugleich, dass die Produktion von Reportagen wie von Meinungen meistens eine Gratwanderung zwischen Dichtung und Wahrheit bedeuten.

So sichtbar sich dieses Schloss bis heute präsentiert, so sicher und vollständig stand es 1945 in der Landschaft. Das war damals nach den verheerenden Kriegszerstörungen in und um Nürnberg keine Selbstverständlichkeit. Weitgehend verschont blieb auch ein zweites Gebäude, nämlich der Justizpalast in der Fürther Straße. Und so kam es, dass in dem einen im November 1945 der Hauptkriegsverbrecherprozess begann und in dem anderen ein Presselager samt Herberge eingerichtet wurde. Und ein dritter Zufall wollte es, dass das Grand Hotel am Nürnberger Hauptbahnhof ebenfalls unzerstört blieb, weshalb nach einem langen Prozess- und Schreibarbeitstag dort ausgiebig gefeiert und getanzt werden durfte, ganz abgesehen vom komfortablen Logis des Hauses.

Aus aller Welt waren Korrespondent*innen angereist, um über Wochen und Monate von dem Prozess gegen Nazi-Größen zu berichten, derer man habhaft werden konnte, so sie sich nicht in den letzten Kriegstagen durch Suizid der Verantwortung entzogen hatten oder spurlos verschwunden waren. Es kamen auch eine ganze Reihe prominenter Schriftsteller nach Stein wie etwa John Dos Passos und William Shirer und auch Persönlichkeiten, die erst noch prominent werden sollten wie beispielsweise Willy Brandt, Markus Wolf und Wolfgang Hildesheimer. Bemerkenswert auch der hohe Anteil an weiblichen Korrespondent*innen – eine Versammlung illustrer Namen wie Erika Mann, Janet Flanner, Rebecca West, Martha Gellhorn und Elsa Triolet.

Sicherlich gab es keinen symbolträchtigeren Ort für den Prozess als Nürnberg, Stadt der Reichsparteitage, in der sich das NS-Regime im Glanz seiner Macht inszenierte, und der Prozess selbst besaß einen unüberbietbaren Symbolwert. Denn neu war die „historische Chance, sich über das Prinzip der Regierungsimmunität hinwegzusetzen“, wie Neumahr bemerkt. Zustande kam ein internationaler Militärgerichtshof mit Vertretern der vier Siegermächte, der in vier Punkten Anklage erhob: Verschwörung, Angriffskrieg, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Es folgten noch eine ganze Reihe von Prozessen, aber der Holocaust kam erst mit den Auschwitzprozessen ab 1963 in Frankfurt/Main auf die Tagesordnung.

Kritisiert wurde an dem Prozess Vieles, das Verfahren, seine Rechtmäßigkeit und weitere juristische Aspekte, aber wirklich nachvollziehbar war und ist die Kritik, dass es nicht auch dezidiert um Verbrechen gegen die Juden ging. So wenig sich der systematische Mord an den europäischen Juden ausblenden ließ, so stand das Thema dennoch nicht im Mittelpunkt. Als ob man das Ausmaß der Verbrechen nicht habe wahrhaben wollen. Wer jedoch mit dem Grauen der Vernichtungslager konfrontiert wurde, schien danach selbst wie gezeichnet zu sein – so erinnern es viele der Zeitzeugen.

„Das Presselager, dieser Mikrokosmos im Nürnberger Makrokosmos, bietet uns den fassbaren Rahmen für die Engführung von Zeitgeschichte, Literaturgeschichte und persönlichen Schicksalen.“ So beschreibt Uwe Neumahr die Intention seiner kulturgeschichtlichen Recherche über jenes „Treffen am Abgrund“ des Jahres 1946. Er nimmt es mit der Engführung sehr ernst und greift sich einige der prominenten Korrespondent*innen heraus, um sie mit ihrer Persönlichkeit, ihren Schwächen und Stärken, ihren Ansichten hell auszuleuchten. Das ist in den wenigsten Fällen wirklich vorteilhaft für die Betreffenden. Denn verbunden mit der Frage, was von dem bleibt, wie sie urteilten und immer wieder auch fehlurteilten, fallen die Resümees von Fall zu Fall eher dünn aus.

Gleichwohl besitzen sie alle den Status der Zeitzeugenschaft und bezeugen damit zugleich, wie unzuverlässig Zeugenschaft sein kann, weil sie in dem einen Fall allzu stark von Ressentiments beeinflusst (Erika Mann), in einem anderen Fall von der eigenen ideologischen Fehlbarkeit (Elsa Triolet) und in wieder einem anderen Fall von blanker Überheblichkeit (William Shirer) behindert wird. Ob wir die Ereignisse damals wirklich begreifen, indem wir die zahllosen Berichte lesen, die in alle Himmelsrichtungen in die Welt hinausgesandt und dort gedruckt wurden, ist zu bezweifeln. Auch sind Fake News nicht erst eine Erfindung unserer Tage. Neumahr dürfte wohl einiges Vergnügen daran gehabt haben, all die Details zu jenem Jahrmarkt der Eitelkeiten zusammenzutragen, um aus ihnen wiederum unterhaltsame Porträts entstehen zu lassen. Gesellschaftsklatsch über Liebschaften und Mesalliancen kommt darin nicht zu kurz, eben das ganze Menschlich-Allzumenschliche.

Im Schloss zu wohnen und zu arbeiten, war keineswegs so angenehm, wie wir uns vielleicht vorstellen. Man lebte dort sehr beengt. Peter de Mendelssohn schrieb an seine Frau Hilde Spiel in London: „Das Leben hier ist so verdammt kompliziert und unangenehm, dass ich es sehr schwierig finde, etwas richtig zu machen.“ Beschwert wurde sich immer wieder auch über das schlechte Essen. Küchenchef war übrigens nach seiner erfolgreichen Entnazifizierung Arthur Kannenberg, der ehemalige Organisationschef für den Haushalt in Hitlers Reichskanzlei. Ansonsten hatten Deutsche keinen Zutritt zum Schloss. Es galt das Fraternisierungsverbot. Außerdem war Deutschenhass eine Standardeinstellung und Viele waren von der Kollektivschuld der Deutschen überzeugt. Erika Mann weigerte sich strikt, Deutsch zu sprechen und gab vor, es nicht mehr zu können.

„Das Press Camp war durch das interkulturelle Zusammenleben auch ein gesellschaftliches Experiment, ein sozialer Testlauf“, schreibt Neumahr an einer Stelle. Doch das Experiment ging, gemessen an den zahlreichen Beschwerden, offenkundig schief. Etwa wenn Janet Flanner sich über die Gruppe der Russinnen mokiert, die nur kollektiv das Bad im Frauenhaus (der Villa im Schlosspark) aufsuchten und blockierten: „Wir Demokraten haben keine Chance gegen sie. Wir wollen einzeln in das Bad gehen und alleine sein. Die Russen scheinen es zu lieben, sich selbst beim Austreten in Gruppen zu organisieren.“

Hinzu kam noch ein anderer Aspekt, der sich unversehens durch eine sich rasch weiterentwickelnde Weltpolitik ergab – der Beginn des Kalten Krieges. Neumahr datiert ihn mit dem 5. März 1946 und Winston Churchills berühmter Rede in den USA, wo er vom „eisernen Vorhang“ spricht, der sich von Stettin bis nach Triest quer durch Europa erstrecke. Es gelte, die Russen aufzuhalten. Das blieb nicht ohne Wirkung auf das „interkulturelle Zusammenleben“ im Schloss. Die Stalinistin Elsa Triolet, verheiratet mit dem ehemaligen Surrealisten Louis Aragon, wiederum kritisiert die Westalliierten, um ihnen zu unterstellen, sie seien durch die Nazi-Ideologie infiziert und lanciert Verschwörungstheorien über einen Pakt der Nazis mit den Anglo-Amerikanern.

Von einer gewissen historischen Pikanterie ist in diesem Zusammenhang das Zusammentreffen von Willy Brandt, der als norwegischer Korrespondent beim Nürnberger Prozess akkreditiert war, und Markus Wolf, der einen russischen Pass besaß und der später als DDR-Spionagechef den Bundeskanzler Willy Brandt durch die Guillaume-Affäre zu Fall brachte (was sich allerdings als ein Eigentor erwies).

Die Detailfülle in Neumahrs kulturgeschichtlichem Panorama beeindruckt. Bei aller Vorliebe für delikate Gesellschaftsnachrichten, für all die Eitelkeiten der literarischen und journalistischen Berühmtheiten, nimmt der Autor immer wieder konsequent die Spur einer Sprachlosigkeit auf, die sich bei jenen, die sonst so professionell das Wort beherrschten, über das Unsagbare der Nazi-Verbrechen einstellte. Das hinderte sie freilich nicht, geradezu mit Hingabe und überaus wortreich die Mimik und Gestik der Täter auf der Anklagebank minutiös zu beschreiben, als ginge es um Bühnenauftritte und um eine Theaterkritik.

Titelbild

Uwe Neumahr: Das Schloss der Schriftsteller. Nürnberg ‚46. Treffen am Abgrund.
Verlag C.H.Beck, München 2023.
304 Seiten , 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783406791451

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