Vom Leben im Sumpf

Eva Viežnaviec erinnert in „Was suchst du, Wolf?“ die Geschichte Belarus‘

Von Helmut SturmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helmut Sturm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Karl Emil Franzos hat vor etwa 120 Jahren in seinen Kulturbildern aus Klein-Asien aus jenem Teil Europas berichtet, in dem nebeneinander Russisch, Weißrussisch, Polnisch und Jiddisch gesprochen wird. Durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine ist diese geographisch so nahe, doch gleichzeitig weitgehend unbekannte Peripherie Europas täglich in den Medien gegenwärtig. Dieses Grenzland ist eine Region mit einer nicht enden wollenden Gewaltgeschichte. Timothy Snyder nennt die ehemaligen Sowjetrepubliken westlich von Russland „Bloodlands“. Wie sehr diese Bezeichnung gerade auch auf Belarus zutrifft, führt verdichtet der schmale Roman, der großartige Literatur ist, von Eva Viežnaviec Was suchst du, Wolf? vor Augen.

Ort der Ereignisse ist die schwer zugängliche Sumpflandschaft um das fiktive Nauhalnaje. Immer wieder fühlen sich die Menschen, wie die gesamte Familie Rynas, der Erzählerin, – zu recht oder zu unrecht – von aus den Sümpfen auftauchenden Wölfen bedroht. Die Geschichte macht allerdings deutlich, dass die wahre Bedrohung vom Menschen kommt: homo homini lupus est.

„Heim zum Grab“ ist der erste Abschnitt übertitelt. Ryna reist aus Darmstadt, wo sie als Altenpflegerin gearbeitet hat, zurück nach Aredeber, dem elterlichen Landgut in dem Sumpfgebiet um Nauhalnaje. Die Alkoholikerin kehrt zurück zum Begräbnis der fast einhunderteinjährigen Großmutter Darafeja. Ryna hatte sich, seit sie ihre Stelle als Bibliothekarin verloren hatte, “sonstwo in der Welt herumgetrieben, weit entfernt von dem, was wirklich wichtig war. Zwar war es krumm, runzelig und halbtot, aber es war das Eigene, das einzig wirklich Wichtige.” Die Großmutter ist das Gedächtnis der Familie. Sie kommt immer wieder in der Ich-Perspektive zu Wort und erzählt die grausamen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts. Von 1918 bis 1922 war in dem Gebiet “ein solches Durcheinander, dass neun Mal die Macht wechselte und sicher jeder sieben Häute Blut abziehen konnte.” Mit ungeheurer Brutalität fallen die Menschen übereinander her, Polen über Belarussen und Juden, Bolschewiken über Polen und Kleinadlige, auch die “ersten” Deutschen sind wie der Urgroßvater beteiligt am Morden und Quälen. Zwangskollektivierung und scheiternde Versuche, wirtschaftlich zu modernisieren, fordern weitere Opfer. Schon vor der durch die “zweiten” Deutschen ausgelösten Katastrophe lautet die Bilanz: “Wenn sie nur wollen, kriegen sie dich und treiben dir die Seele aus, einmal die Wölfe, einmal die Mächtigen.” Das Morden kommt im Zweiten Weltkrieg zum Höhepunkt. “Nach dem Krieg zählten sie, wie viel unseres Volkes vergeudet wurde. Es kam heraus, dass es jeder Dritte war.”

Auch die Sowjetzeit bleibt nicht frei von Gewalt und Unterdrückung. Das Aufwachsen und Leben der 1969 geborenen Ryna werden in Erinnerungssplittern dargestellt. Jetzt nicht aus der Perspektive der Großmutter, sondern vorgetragen von einem Ich-Erzähler, der stellenweise ins auktoriale Erzählen wechselt. Unter den Frauen der Familie werden naturmedizinisches Wissen, schamanische Praktiken und Heilkräfte weitergereicht, die die Großmutter als erste, die Schreiben gelernt hat, versucht, schriftlich festzuhalten. Ihre Hefte und damit die Geschichte des Eigenen versucht Ryna zu retten. Im Mittelpunkt stehen dabei immer die Frauen, die in all ihrer Bedrängtheit Würde und sozialen Zusammenhalt bewahren.

So ein kurzer Roman und so viele unbedingt nennenswerte Facetten. Schicksale, wie das von Orka Barenboim, dem Juden, der auf Ardeber Zuflucht gefunden hat. Die Großmutter gibt ihm tödlichen Distelsaft, bevor er von den Nazis gefunden wird. So viel Trauer. Eva Viežnaviec erinnert ein Antimärchen, das in der Übersetzung von Tina Wünschmann voll überzeugt, und die historische Wahrheit gerade noch erträglich macht. In Sasha Marianna Salzmanns Roman Im Menschen muss alles herrlich sein über ukrainische Auswanderer heißt es: “Erinnerung macht einsam”. Eva Viežnaviec schreibt auf Belarussisch, der so lange unterdrückten Sprache, und muss wegen ihrer Sicht der Geschichte im Exil in Warschau leben.

Titelbild

Eva Viežnaviec: Was suchst du, Wolf? Roman.
Aus dem Belarussischen von Tina Wünschmann.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2023.
144 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783552073364

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