Eine Wildnis schaffen, die neu besiedelt werden kann

„Nichts ersetzt den Blick ins Gelände“ ist eine poetologische Ansage von Daniela Danz

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Nichts ersetzt den Blick ins Gelände“, ist eine alte Soldaten-Weisheit. Und es ist der Titel des neuen Essay-Bandes von Daniela Danz. Er ist eine poetologische Ansage der Lyrikerin, die in ihren Aufsätzen verlangt, dass Schreibende und Lesende sich nicht auf Kartographiertes verlassen. Sie sollen ihr waches Auge bewahren. Sie sollen jeden Blick auf die Wirklichkeit auf den Prüfstein legen, immer wieder „dekartographieren und damit alle Annahmen und Vorstellungen“ beweglich halten. Die Essays geben Anstöße für neue Blickrichtungen.

Was dies bedeutet, sollen hier zwei Meldungen veranschaulichen: Wenige Tage nach der Eröffnung des neuen Swinetunnels zwischen den Inseln Usedom und Wollin im Juli 2023 wendeten zahlreiche Autofahrer mitten im Tunnel. Sie gaben ihren Navigationssystemen die Schuld, denn diese vermeldeten, die Straße ende im Wasser: „Bitte wenden“, zeigten ihre Bildschirme an. In derselben Woche wurde berichtet, dass eine österreichische Familie auf dem Weg nach Kroatien ins falsche Salzburg fuhr – sie fuhren fünfhundert Kilometer nach Salzburg im deutschen Westerwald, statt das nahe Salzburg in Österreich auf ihrer Route zu passieren. Assistenz- und Navigationssysteme wurden zu dem Zweck geschaffen, dass Menschen sich auf sie verlassen, sich schließlich ganz ausliefern und Wissen vergessen. Wer stur den Befehlen der Technik gehorcht, wendet riskant im Tunnel oder fährt stundenlang in die falsche Himmelsrichtung.

Daniela Danz schreibt in ihrem Essayband: „Ich sehe, was ich sehen soll. Ich werde Wege, die mit dem Auto nicht befahrbar sind, nicht in einer Autokarte verzeichnet finden.“ Oder es fehlen eben Wege, die neu und bereits befahrbar sind. Karten können lügen. Karten können fehlleiten. Es wird Wissen vorausgesetzt. Leicht lässt sich das Bild auf Textproduktion und -rezeption übertragen. Es bedarf einer Syntax, einer Struktur, einem Plan und einem Ziel. Dann legen Texte einerseits offen, wie sie gelesen werden wollen. Andererseits öffnen sie auf der Suche nach Kohärenz neue Pfade. Sie erreichen „Zwischenperspektiven“. Gemeint sind Stellen, „wo der Leser sich ebenso wie der Text selbst seinen Weg durchs Gelände bahnen muss“, schreibt Danz in ihrem Aufsatz Die Scheu der Stringenz, dem im vorliegenden Buch unmittelbar der großartige Essay Das zersprengte Gedicht in aphoristischer Form folgt. Mit ihm erreicht dieser Gedankengang, der einer Suche nach dem Mythos, dem Unsichtbaren, gleicht, seinen Höhepunkt. Denn die forschende Suche von Daniela Danz schafft eine Brücke vom essayistischen zum lyrischen Werk. Das „Gezeigte Verborgene“, das Danz anspricht, ist der Kern des Dichterisch-Mythischen. Im Essay Das zersprengte Gedicht erklärt die Autorin, dass Gedichte für sie „der äußerste literarische Versuch“ sind, „die Sprache an ihre Grenzen, nämlich an die des Nichtsagbaren, zu bringen“.

Die Motive ihrer Lyrik – von den grundsätzlichen Fragen des Zusammenlebens und nach der Entscheidungsfreiheit des Menschen bis hin zu Friedrich Hölderlins Wildnis – finden Eingang in die Essays. In den Essays irisieren geographische, soziale und sprachliche Grenzen je nach Blickrichtung in verschiedenen Farben. Und jene Grenzen lotet die Autorin in ihren Gedichtbänden aus. Hier trifft Schreiben auf Realität. In Pontus richtete sie beispielsweise den Blick auf die geographischen Grenzen Europas. Danz beleuchtete den schwierigen Zusammenhang zwischen Freiheit und Heimat und stellte der Heimat das Lemma Vaterland gegenüber, was sie im Essayband noch einmal explizit erwähnt. Insbesondere im Gedichtband Wildniß stellte sie die Frage, was unsere Gesellschaft zusammenhält.

Mit zunehmendem Abstand zur Corona-Pandemie reift die Überzeugung, dass es Daniela Danz 2020 mit Wildniß gelungen ist, das außergewöhnlich Ungreifbare jener Jahre – die Ungewissheit, die Stille und jene zermürbende Spannung, welche beim Blick auf apokalyptisch leere Straßenzüge in jeden Knochen kroch – einzufangen. Womöglich ist es der beste Gedichtband, der während der Pandemie über ebendiese veröffentlicht wurde. Denn was heute bleibt, ist die Erinnerung und mit zunehmendem Abstand auch Unschärfe. So entsteht eine Leerstelle, die Wildniß füllt. Die Gedichte lassen das Irrsal nachklingen und den Leser erschauern. Sie haben das Unsichtbare eingefangen. Es ist Danz gelungen, „die individuelle Erfahrung eines Menschen ins Überindividuelle“ umschlagen zu lassen, ein Anspruch, den sie im vorliegenden Essay-Band in der Betrachtung des Mythischen in Franz Fühmanns Poetik formuliert.

In Nichts ersetzt den Blick ins Gelände kommt die Autorin auch ganz konkret auf die Pandemie zurück. Sie erinnert sich und zieht Motive aus ihrer Lyrik heran. Sie erinnert an die Zeit, in der „der äußere Anhalt, die Nähe, das Eingebundensein“ fehlten. Sie veröffentlicht eine Rede, die sie unter den strengen Corona-Regeln an Himmelfahrt 2021 hielt: „Wir haben das Gefühl, nicht mehr zu leben, sondern nur noch auf das Leben zu warten, während die Zeit vergeht und schon ein Jahr vergangen ist“. Dass dies heute nach der Bedrohung durch die Pandemie auch für die sich unmittelbar anschließende Bedrohung durch den Angriffskrieg Russlands gilt, zeigt, dass nichts sicher ist, was wir für sicher hielten – auch nicht der Frieden in Europa. Sorgen wachsen angesichts der Herausforderungen des Klimawandels, galoppierender Lebenshaltungskosten und des Krieges. Der Lesende versteht, dass sich das Disparate der Welt nicht zusammenzwingen lässt. Irdische Spannung, lautet der Titel jener Kanzelrede, in welcher Danz auch ihrer Hoffnung Ausdruck verleiht. Danz richtet immer wieder den Blick auf Hölderlin, der in ihn zerreißenden Spannungen lebte. Gedichte wie Hölderlins späte Hymnen, deren „Glieder so zerstreut sind“ und die den Lesenden an seine Grenzen bringen, öffnen neue Wege, sie halten beweglich. Das „chaotisch Wilde […] sollte nicht gezähmt und abgewiesen werden, Hölderlin heißt es vielmehr als Katalysator willkommen, der das Hereinbrechen einer neuen Zeit beschleunigt“.

Obschon die politische Rezeption Hölderlins in mannigfaltige Labyrinthe führte, sein Werk fehlgedeutet und ideologisch ausgenutzt wurde, gelingt Danz eine poetologische Übertragung in die Gegenwart. Daniela Danz ruft in ihren Essays wie Hölderlin dazu auf, trotz der Furcht vor der Wildnis ebendiese herbeizusehen. Denn Umbrüche seien nicht aufzuhalten; dies erkannte Hölderlin angesichts der Erfindung der Dampfmaschine, und dies muss der Lesende angesichts der rasanten Entwicklung Künstlicher Intelligenz heute erkennen. Dabei ist nicht Desorientierung das Ziel. Es gebe eine „Sehnsucht nach dem ganz Anderen“. Hilft dies weiter? Der Lesende fragt sich, ob er sich wirklich vorwärts bewegt. „Wie anders ließe es sich dem wirklich Unsagbaren nähern als in Seitwärtsbewegungen“, erwidert Danz. Der Essayband ist eine Inspirationsquelle. Es sei mit Nachdruck empfohlen, zugleich die Gedichtbände von Daniela Danz zur Hand zu nehmen. Ihr Formbewusstsein, ihr leidenschaftlicher Einsatz für Klang und Rhythmus einerseits, wird auf der anderen Seite begleitet von einer Begeisterung für das Wilde und Magische – „Magie in einem offenen System“ – in der Lyrik wie in ihren Essays. Es wird keine Rettung versprochen. Aber wenn das Unberechenbare weit ausgreife, entstünden neue Chancen. Wildnis schaffe weiße Flecken, die neu besiedelt werden können, schreibt Danz. Sie setzt Wörter im Gelände aus, um Denkbewegungen zu evozieren. Und ihre Gedichte können den Lesenden in schwierigen Zeiten zusammenhalten, damit er nicht zerbricht.

Titelbild

Daniela Danz: Nichts ersetzt den Blick ins Gelände. Essays.
Wallstein Verlag, Göttingen 2023.
115 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783835354128

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