Der Woermann-Komplex
Kim Sebastian Todzis Untersuchung zum Zusammenhang von kolonialer Herrschaft, ökonomischer Globalisierung und deutschem Unternehmertum anhand des Woermann-Konzerns leistet einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit Deutschlands
Von Lisa Pychlau-Ezli
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Das Vergangene ist nicht tot“, lautet eine der wohl beliebtesten Aussagen William Faukners. „Es ist nicht einmal vergangen.“ Gerade in Bezug auf das Thema Kolonialismus erweist sich dieses Zitat als nur allzu zutreffend. Tatsächlich finden wir, wenn wir genau hinsehen, die Spuren und Auswirkungen der kolonialen Vergangenheit Deutschlands heute überall in unserem Alltag: Sehr viele deutsche Zoos, botanische Gärten sowie Natur- und Völkerkundemuseen stammen aus der Zeit des deutschen Kolonialismus; Prachtbauten, Denkmäler und Statuen, die das Bild der sichtbaren Öffentlichkeit prägen, wurden mit Geldern aus dem transatlantischen Dreieckshandel und dem Kolonialismus erbaut und verweisen auf diesen. Straßennamen würdigen öffentlich „Kolonialhelden“ wie Carl Peters und während des Kolonialismus gegründete Unternehmen wie Edeka (Einkaufsgenossenschaft der Kolonialwarenhändler), Sanella oder Dallmayr sind bis heute erfolgreich. Zugleich bestehen wirtschaftliche Ausbeutungsverhältnisse, die im Kolonialismus ihren Ursprung haben, weiterhin fort. Dennoch hat sich der gesellschaftliche Konsens etabliert, dass der deutsche Kolonialismus kaum der Rede wert sei, da er ja vergleichsweise nur sehr kurz gedauert habe und darüber hinaus für das 1871 frisch gegründete Deutsche Reich ein nicht profitables Zuschussgeschäft darstellte.
In Bezug auf die koloniale Vergangenheit Deutschlands und den Umgang mit dieser besteht somit bis heute ein immenser Aufklärungs- und Aufarbeitungsbedarf. Diesem nachzukommen ist Aufgabe der Wissenschaften. Im Folgenden möchte ich daher nicht nur eine Beurteilung über die sehr gelungene Dissertation zum Woermann-Konzern abgeben, sondern zugleich auch die gesellschaftliche Relevanz derartiger Forschungsarbeiten hervorheben. Während sich zeitgenössische Publikationen zunehmend kritisch mit der Rolle des deutschen Staates im Kolonialismus beschäftigen, trifft dies jedoch nicht auf die Rolle von Unternehmen zu. So wird die Firma C. Woermann zwar standardmäßig erwähnt, aber ihre Bedeutung nicht weiter ausgeführt.
Die Bedeutung von C. Woermann und insbesondere der Person Adolph Woermanns für den deutschen Kolonialismus darf jedoch nicht unterschätzt werden, wie Kim Sebastian Todzis Untersuchung zum Aufstieg und Fall des Woermann-Konzerns von 1837 bis 1916 präzise und umfassend darlegt. Todzi zeichnet in seiner Studie den Wandel von C. Woermann vom Handels- zum Logistikunternehmen nach und vertritt dabei die zentrale These, dass zwischen C. Woermann und der deutschen Kolonialpolitik eine „symbiotische Beziehung“ bestanden habe. Er belegt, wie sich die Firmengeschichte in Abhängigkeit zur deutschen Kolonialpolitik entwickelte und diese ihrerseits beeinflusste. Darüber hinaus veranschaulicht Todzi, dass „Kapitalismus und Kolonialismus auf vielfältige Weise miteinander verbunden sind“ und kommt zu dem Resümee, dass „die heutige kapitalistische Weltordnung eine imperiale Vorgeschichte hat“. Diese Punkte erweisen sich für das heutige Verständnis des deutschen (Post)Kolonialismus als extrem relevant und können daher gar nicht genug betont werden.
Gerade weil das Unternehmen C. Woermann Todzi zufolge „als Produkt und Produzent gesellschaftlicher Verhältnisse in der kolonialen Globalisierung“ fungierte, erfahren Rezipierende dieser Studie neben der ausführlichen Firmengeschichte auch viel über die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des deutschen Kolonialismus. So arbeitet Todzi die überaus bedeutende Rolle der deutschen Kolonien für die deutsche Wirtschaft heraus. Handels- und Logistikunternehmen sowie Hansestädte wie Hamburg und Bremen profitierten immens von den Kolonien. Zudem war der technologische Fortschritt im Zuge der Industrialisierung auf immer größere Mengen an afrikanischen Rohstoffen wie Palmöl und Palmkernen angewiesen. Mit der Kolonialisierung ging grundsätzlich die Steigung des Lebensstandards der Deutschen einher. Aus den Kolonien stammten jene Dinge, die der deutschen Bevölkerung das Leben angenehmer machten: Genussmittel wie Kaffee und Schokolade, Kautschuk für Reifen und Schuhe und Luxusartikel wie Elfenbein. Afrika wurde als riesiges Rohstofflager mit billiger Arbeitskraft betrachtet sowie als lukrativer Absatzmarkt für Alkohol und Waffen und außerdem als potenzielles Ansiedlungsgebiet für deutsche Migrant:innen, die zum Missfallen der Regierung bevorzugt nach Nordamerika auswanderten. Neben der wirtschaftlichen spielte auch die ideologische Komponente eine wichtige Rolle. Todzi attestiert der deutschen Bevölkerung jener Zeit, die sich kollektiv einen „Platz an der Sonne“ wünschte und das Gefühl hatte, imperial gesehen zu kurz gekommen zu sein, einen „nationalistischen Minderwertigkeitskomplex“. Als „späte Nation“ versuchte das Deutsche Reich so schnell und effektiv wie möglich an Vorbilder und Konkurrenten wie das British Empire anzuschließen. Der Besitz eigener Kolonien erschien in der breiten Bevölkerung jenseits des praktischen wirtschaftlichen Nutzens als ein erstrebenswertes und notwendiges Mittel zu diesem Zweck. Was für die breite Bevölkerung und auch für die Politik zunächst abstrakte Wünsche und Vorstellungen waren, konnte insbesondere dank Adolph Woermanns Zutun konkret werden, wie Todzi quellennah belegt. Woermann machte sich die prokoloniale gesellschaftliche Stimmung zunutze und setzte sich systematisch für den Erwerb deutscher Kolonien ein. Er argumentierte dabei gerne mit dem populären kolonialrassistischen Narrativ, dass die afrikanischen N* wie die Kinder seien, die zur Arbeit erzogen werden müssten; eine Einstellung, die ihm den Zugang zu extrem günstigen Arbeitskräften bzw. Zwangsarbeiter:innen sicherte und dazu beitrug, seine Gewinne zu maximieren. Um seine Ziele zu erreichen, wirkte Woermann nicht nur auf den „Eisernen Kanzler“ Otto von Bismarck ein, sondern nahm selbst als Berater an der Berliner Kongokonferenz 1884/85 teil, wo die europäischen Großmächte Afrika wie einen Kuchen unter sich aufteilten.
Todzi legt dabei die Absurdität offen, dass weiße Europäer Zugangsprivilegien für sich einforderten und diese der ortsansässigen Bevölkerung verwehrten, in dem rassistischen Glauben, nur sie hätten ein natürliches Recht auf die Rohstoffe des Kontinents. Folge dieses Denkens war die massive Ausbeutung von Mensch und Natur.
Zwischen C. Woermann und der Kolonialverwaltung bestand zwar keine dauerhafte „Interesseneinheit“, so Todzi, aber der Staat war ein mächtiger Verbündeter, der C. Woermanns Interessen schützte und förderte. Zugleich war die deutsche Regierung in Bezug auf ihre Kolonialpolitik dermaßen strategielos, dass sie auf die Beratung von Kaufleuten wie Adolph Woermann angewiesen war, der die Situation zu seinen Gunsten nutzte. So waren es anfangs in der Regel Geschäftsleute, wie Adolf Lüderitz, Heinrich Vogelsang oder eben Adolph Woermann, die aus eigenen wirtschaftlichen Interessen als Wegbereiter für den deutschen Kolonialismus in Afrika fungierten, insbesondere durch die Aushandlung der sogenannten „Schutzverträge“. Wie Todzi darstellt, verfolgte Bismarck, der den Erwerb eigener Kolonien bekanntermaßen lange Zeit ablehnte, zunächst den Plan, die Verwaltung und Finanzierung der Kolonien den Kaufleuten zu überlassen; ein Vorhaben, das letztendlich jedoch scheiterte, da die Kaufleute in den Kolonien auf den militärischen Schutz der Kolonialmächte angewiesen waren, um ihre Interessen dauerhaft durchsetzen zu können.
Ihren morbiden Höhepunkt erreichte die „symbiotische Beziehung“ zwischen der deutschen Kolonialpolitik und C. Woermann im Genozid an den Nama und Herero. Todzi legt dezidiert dar, wie die Woermann-Linie „unter großen finanziellen und organisatorischen Anstrengungen“ die logistische Durchführung des Truppentransports zwischen dem deutschen Reich und der Kolonie bewältigte. Auch Lothar von Trotha reiste mit einem Dampfer der Woermann-Linie an. Dabei profitierte C. Woermann nicht nur beachtlich durch den Truppentransport, sondern auch durch den deutlich gestiegenen Handelsverkehr in Südwestafrika aufgrund der Anwesenheit tausender Soldaten. Nicht zuletzt transportierte die Woermann-Linie das für den Ausbau der Eisenbahnstrecken benötigte Material, welche u.a. den Zweck der Erschließung und Ausbeutung des afrikanischen Hinterlandes verfolgten.
In Bezug auf den deutschen Kolonialismus herrschte Einigkeit darüber, dass Afrika weltpolitisch ein „wichtiges Zukunftsgebiet“ sei, an dem sich Deutschland seinen „gebührenden Antheil“ sichern müsse, so Bismarck, zu dem Adolph Woermann ein gutes Verhältnis hatte. Eine enge Beziehung pflegte Woermann auch zu dem Juristen Julius Scharlach, der die Auffassung vertrat, Kolonisation bedeute nicht, „die Eingeborenen zu zivilisieren, sondern sie zurückzudrängen und schließlich vernichten“. Den Vollstrecker dieser Einstellung, Lothar von Trotha, transportierte die Woermann-Linie ins Kriegsgebiet. So verwundert es kaum, dass Adolph Woermanns Sohn und Nachfolger Kurt Woermann schon früh NSDAP-Mitglied war und sich nach dem Verlust der Kolonien aufgrund des Versailler Vertrags engagiert für einen erneuten Erwerb von Kolonien einsetzte.
Zusammenfassend steht der Woermann-Konzern für die Zusammenhänge von Kapitalismus und Kolonialismus exemplarisch; wie Todzi herausarbeitet, ist kaum ein wirtschaftliches Unternehmen mit der deutschen Kolonialherrschaft in Süd- und Westafrika so eng verwoben gewesen. So trug der Wandel vom Handelsunternehmen zum Logistikkonzern nicht nur maßgeblich zum wirtschaftlichen Erfolg des Woermann-Konzerns bei, sondern machte diesen zeitweise für die Sicherung der kolonialen Herrschaft unentbehrlich.
Dass es keine positiven Aspekte des deutschen Kolonialismus in Afrika gibt (deren Auflistung teilweise in deutschen Schulbüchern als Arbeitsauftrag an Schüler:innen formuliert ist), wird nach der Rezeption von Todzis Untersuchung noch einmal sehr deutlich. Auch die sicherlich mitunter gut gemeinte christlich-kulturelle Zivilisierungsmission resultierte letztendlich aus einem rassistisch bedingten grundsätzlichen kulturellen Überlegenheitsempfinden.
Die unter der Aufsicht von Jürgen Zimmerer entstandene Untersuchung leistet somit einen wichtigen Beitrag zur Aufklärung der Rolle und des Einflusses deutscher Unternehmen während des Kolonialismus in Afrika und schließt eine Forschungslücke. Die Studie charakterisiert sich insbesondere durch ein beachtliches Hintergrund- und Detailwissen. Die Stärke der Arbeit liegt dabei zum einen in der Quellenarbeit, die auch historische Bilder und deren Analyse einschließt, und zum anderen in ihrem interdisziplinären Ansatz, der ökonomische, historische sowie sozial- und kulturgeschichtliche Perspektiven integriert und in Bezug setzt.
Neben den harten Fakten ist auch das Bewusstmachen der durch Rassismus geprägten Grundeinstellung der deutschen Gesellschaft vor rund 120 Jahren von hoher Wichtigkeit, wenn es um das Verständnis des deutschen Alltagsrassismus der Gegenwart geht. Um die Entstehung und Verbreitung und auch den praktischen, oft wirtschaftlichen, aber auch ideologischen Nutzen von Rassismus für weiße Menschen herleiten zu können, ist die Aufarbeitung der deutschen Kolonialzeit essentiell. Das Verständnis des vergangenen Rassismus bildet somit die Grundlage für das Verständnis des gegenwärtigen Rassismus. Die Vergangenheit ist nicht vergangen; sie bleibt relevant für die Gegenwart. In diesen Kontext reiht sich die gesellschaftliche Relevanz von Todzis Studie ein.
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