Was ist der Mensch ohne Vergangenheit?
In „Das Buch vom Verschwinden“ fasst die palästinensische Autorin Ibtisam Azem das Drama ihres Volkes in eine prägnante Parabel, ohne dabei das Drama des jüdischen Volkes aus den Augen zu verlieren
Von Martin Schönemann
Abtisam Azem wurde 1974 in Israel geboren. Sie hat in Deutschland studiert und lebt jetzt in New York, wo sie als Journalistin arbeitet. Sie ist eine, die dem „Grab von einem Leben“ – wie eine ihrer Romanfiguren das palästinensische Leben in Israel charakterisiert – auf Dauer entkommen ist. Wahrscheinlich kann sie deshalb so gut darüber schreiben. Das Buch vom Verschwinden ist ihr zweiter Roman. Er erschien bereits 2014 und wurde jetzt als erstes ihrer Bücher ins Deutsche übersetzt.
Azems Thema ist die Beziehung zur Vergangenheit. Sie demonstriert mit ihrem Roman, wie die Zukunftsfähigkeit eines einzelnen Menschen und zugleich eines ganzen Volkes von einer sinnvollen Verwurzelung in der Vergangenheit abhängt. Entsprechend ist der Text aufgebaut: Er hat als Kern eine kurze Gegenwartshandlung, eine Geschichte um zwei junge Männer aus Tel Aviv, der eine jüdischer, der andere palästinensischer Herkunft. Der größere Teil des Romans aber blickt darüber hinaus: Viele Kapitel bestehen aus Rückblicken auf das alte Jaffa und seine Vereinnahmung durch Tel Aviv, die aus den Erinnerungen der Großmutter des Palästinensers stammen. Und einige weitere Kapitel werfen schlaglichtartig einen Blick auf Geschehnisse anderswo in Israel, gleichzeitig zur Kernhandlung. Auch hier gibt es wieder Rückblicke. So erlebt der Leser die Geschichte um die beiden jungen Männer als Teil von etwas Größerem, gesellschaftlich wie historisch.
Diese Geschichte ist kurz, aber eindringlich: Die alte Großmutter des Palästinensers stirbt, er trauert, trifft seinen Freund zum Wein, findet aber keinen Zugang zu ihm und geht früh zu Bett. Am nächsten Morgen sind alle Palästinenser Israels und der besetzten Gebiete verschwunden – sie haben sich in Luft aufgelöst. Der Jude – er ist Journalist – sucht nach der Ursache, aber vor allem sucht er seinen Freund. Er findet dessen Heft mit den Erinnerungen an die Großmutter, aber keinen konkreten Grund für das Verschwinden. Er irrt durch die Straßen, durch die Kneipen, die verlassenen arabischen Viertel, und am Ende okkupiert er resigniert die Wohnung seines verloren gegangenen Freundes.
Entsprechend prägt ein leiser, melancholischer Ton das Buch. Dieser Ton ist es vor allem, der für das Buch einnimmt. Hier wird einem nicht erklärt, was Israel ausmacht. Es geht nicht um die politische Situation – es geht darum, wie konkrete Menschen in dieser Situation leben, was sie denken, was sie fühlen, wie ihr Alltag verläuft. Selbst der surreale Handlungsmittelpunkt, das Verschwinden der Palästinenser, fällt nicht durch besondere Dramatik auf. Die Menschen nehmen es verwirrt und verwundert hin wie schon so vieles Merkwürdige in ihrem Land, ja, in mancher Hinsicht scheint es die logische Konsequenz des bisher Geschehenen.
Auch die Schrecken der Vergangenheit werden in dem Roman kaum konkret geschildert. Aber sie werden sichtbar in der psychischen Konstitution der Figuren. So sind auch die beiden Protagonisten, Alaa, der Araber, und Ariel, der Jude, merkwürdig verlorene Gestalten. Sie leben freigeistig und freiberuflich in dem als gesichtslos beschriebenen Tel Aviv. Sie sind Singles, haben nur losen Kontakt zu ihren Familien. Alaa leidet unter dem Verlust seiner Großmutter, der einzigen Verwandten, der er sich näher verbunden fühlte. Und er trägt deren Lebenstrauma weiter: Die Großmutter blieb allein mit ihrem Vater in Jaffa, als der Rest der Familie sich angesichts der Nakba zur Flucht in den Libanon entschloss. Nur bruchstückweise, in Anekdoten und Andeutungen, erfährt der Enkel, was der Verlust des Familienhauses, der Verwandten, das Leben als Angehörige einer diskriminierten Minderheit für sie bedeutete, und notiert es in einem Heft. Er selbst lebt im modernen Tel Aviv, will das Vergangene loswerden und verweigert demonstrativ die von der Familie erwartete Familiengründung: „Weshalb sollte ich noch mehr Palästinenser in die Welt setzen? Gibt es nicht schon genug Geplagte in diesem Land?“ Er bleibt durch das vergangene Trauma geprägt und vermag es nicht abzuschütteln. Einmal schlägt er als Lösung sogar vor, die Palästinenser sollten geschlossen zum Judentum übertreten, damit das quälende Problem endlich vom Tisch ist.
Nicht anders geht es seinem Freund Ariel. Den ärgert die Sehnsucht seiner weißhäutigen Großmutter nach Polen, da sie sich weigert, von ihren Erlebnissen dort zu erzählen. Das Leid, das Trauma wird verschwiegen. Nicht anders der vermutliche Unfalltod seines Vaters als Soldat im Libanonkrieg: Auch darüber erfährt Ariel nichts Genaues, die konkrete Erinnerung, die notwendige Trauer werden unter Märtyrer-Pathos begraben.
Deshalb leben beide Protagonisten bewusst in Tel Aviv, der „weißen Stadt“, einer sachlichen, künstlich wirkenden Siedlung im Bauhaus-Stil, die – einst Vorstadt Jaffas und Identifikationsobjekt der zugezogenen Zionisten – längst zum Zentrum einer anonymen Großstadt geworden ist. Hier lebt man heutig und vergangenheitslos. Das historische Jaffa dagegen, es ist zerstört und lebt nur als touristische Rekonstruktion mit umbenannten Straßen weiter. Und Ariel, der Journalist, weiß in seinem Artikel für eine amerikanische Zeitung auch nur Floskelhaftes von sich zu geben. Das Vergangene bestimmt ihn, er hat keine eigene Stimme.
Es spricht für die Autorin Abtisam Azem, dass sie in dieser bedrückend realistischen Schilderung immer wieder auch hoffnungsvolle Momente aufscheinen lässt. So taucht in der zweiten Hälfte des Romans eine Prostituierte auf, eine Transperson, die sich aufgrund ihres dunklen Hauttyps und anderer Indizien für ein gestohlenes jemenitisches Kind hält und sich einen schüchternen Araber als Zuhälter erwählt. Vielleicht erinnert sie daran, dass Jaffa einst auch Umma al-Ghatib genannt wurde, „Mutter der Fremden“, denn obwohl sie in der Geschichte selbst verloren und fremd wirkt, vereint sie doch tatsächlich das einander Fremde in ihrer Person. Und es ist von einiger Bedeutung, dass Ariel auf den Flirt mit einer jüdischen Barkeeperin verzichtet, um mit ihr ein Glas Wein zu trinken.
Natürlich ändert das nichts am unaufhaltsamen Verlauf der Geschichte: Am Ende bleiben die Palästinenser verschwunden, ihr Besitz, ihre Häuser gehen in jüdische Hände über und auch Ariel übernimmt die Wohnung seines verschwundenen Freundes Alaa. Aber er hört überall merkwürdige Geräusche, so wie seine Großmutter immer Stimmen und Geräusche gehört hatte.
Diese Stimmen und Geräusche sind das eigentliche Thema des Romans. Mit einem ungeheuren Anspielungsreichtum, der sich Lesenden, die nicht mit der Situation vertraut sind, wahrscheinlich erst beim zweiten oder dritten Lesen erschließt, entfaltet Abtisam Azem ein Panorama der mentalen Verfasstheit ihres Landes und bringt es in der Geschichte des jüdisch-palästinensischen Freundespaars auf den Punkt. Damit ist ihr Buch nicht nur außerordentlich lehrreich, es mahnt die Lesenden auch, auf diese Stimmen und Geräusche zu hören, in sich selbst und in den anderen, auch jenseits von Israel.
![]() | ||
|
||
![]() |