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Ingeborg Gleichauf legt ein ergreifendes Gertrud-Kolmar-Porträt vor

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gertrud Käthe Chodziesner (1894–1943), bekannt als Gertrud Kolmar, war die Tochter eines angesehenen Berliner Rechtsanwalts, zeitweilige Dolmetscherin, Pädagogin, dann Sekretärin des Vaters. 1923 zog die Familie hinaus ins ländliche Finkenkrug (hinter Spandau), ein Haus mit Garten und Tieren, ein Ort für Metaphern im Niemandsland zwischen Ewigkeit und Vergänglichkeit. Als 1930 die Mutter starb, pflegte die Tochter den alternden Vater. 1939 mussten beide das geliebte Landhaus für immer verlassen: Arisierung, also Zwangsverkauf. Die Berliner Ersatzwohnung, die bald zum „Judenhaus“ wurde, ließ sie Finkenkrug „wie ein verlorenes Paradies sehen“. 1942 musste der 81jährige Vater nach Theresienstadt, wo er bald darauf starb. Die Dichterin war Zwangsarbeiterin in der Rüstungsindustrie geworden. Sie fiel wohl den Verhaftungen vom 27. Februar 1943 zum Opfer und wurde nach Auschwitz deportiert. Es gibt kein weiteres Lebenszeichen mehr von ihr.

Was sagen schon diese dürren Daten über das Leben und Sterben von Gertrud Kolmar aus? Ihr schmales, aber sprachgewaltiges dichterisches Werk gibt Erfahrungen der Trauer und Einsamkeit, des Nicht-Gehört-Werdens und Verstummens, den Gestalt-Wandel des Ich wie den Wechsel der imaginierten Szenerie, das Überspringen der Grenzen von Zeit und Raum, aber auch die Auseinandersetzung mit ihrer Position als Frau und jüdische Autorin in der zeitgenössischen Gesellschaft wieder. Das Leid des jüdischen Schicksals ist hier synonym mit dem kreatürlichen Leid. Und trotz der unübersehbaren Schwermut sind die Texte durch einen auffallenden Hang zu sinnlichen Gegebenheiten geprägt. Grenzenlos ist Kolmar im Erfinden neuer Metaphern und Metapherreihen. Zum vollen Bewusstsein ihrer jüdischen Identität, des Wertes ihres literarischen Schaffens kam sie erst dann, als ihr die Nationalsozialisten ihr Menschsein, ihr künstlerisches Selbst absprachen.

Biographien zu Gertrud Kolmar und Beiträge zu ihren Dichtungen hat es in den letzten Jahrzehnten nicht wenige gegeben. Hervorzuheben die biographische Collage Gertrud Kolmar. Leben und Werk, Zeit und Tod (2008) des 2015 verstorbenen Schriftstellers Dieter Kühn. Hätten nicht die 11 Jahre jüngere Schwester und der Schwager ihre Texte gesammelt und weitergegeben, wäre die Dichterin – bis auf die wenigen Publikationen zu ihren Lebzeiten – so gut wie unbekannt geblieben. Es gibt einige Mitteilungen aus ihrem privaten Leben, so von der Schwester Hilde, die 1938 in die Schweiz emigrierte, ein Konvolut Briefe aus den Jahren 1938 bis 1943 an eben diese Schwester und eigentlich nur ein Porträtfoto von ihr – ein ernstes Gesicht mit großen dunklen Augen – aus der zweiten Hälfte der 1920er Jahre. „Als wollte sie keine Spur auf Erden hinterlassen“, hatte Dieter Kühn geschrieben. Dessen kaleidoskopartige Darstellung, die sowohl authentische als auch fiktive Berichte über die Dichterin wie ihre Familienangehörigen einschließt, holt weit aus: Dort, wo es keine Aussagen der Dichterin oder ihrer Angehörigen gab, nahm Kühn Dokumente der Zeit, Zeitungsberichte, jüdische Autobiographien als Hilfsmittel, er ließ Zeitzeugen zu Wort kommen, um das Zeitatmosphärische einzufangen. Es wurde eine Biographie in vielstimmigen Sätzen und Zeugenschaften, die ’Chronik einer jüdischen Familie’ im Panorama jener Zeit, hat uns der Autor selbst wissen lassen.

Ganz anders geht Ingeborg Gleichauf in ihrem jetzt erschienenen Porträt-Band Alles ist seltsam in der Welt vor. Ihr Generalthema ist die Stellung der Frau in der Literatur und Philosophie des 20. Jahrhunderts, sie hat Bücher über Hannah Arendt, Simone de Beauvoir, die Beziehung zwischen Ingeborg Bachmann und Max Frisch, aber auch Gudrun Ensslin, veröffentlicht, sie hat über deutschsprachige Dramatikerinnen und „Schriftstellerinnen in der dritten Lebensphase“ geschrieben. Was heißt es, Gertrud Kolmar „zu lesen, in einen Dialog zu treten mit ihren Texten, einzig vermittelt durch das, was ich als Lesende, als Lesender an Vorwissen, an biographischem Hintergrund, an Erwartungen mitbringe, die ich immer neu zu hinterfragen habe“?  Sie nimmt ihre Leser mit auf die Entdeckungsreise in die Welt der Dichterin, als ob auch sie deren Texte zum ersten Mal zur Kenntnis nimmt, erwartungsvoll, offenen Sinnes, behutsam sich die Welt der Kolmar erschließend, gleichsam wie eine Mit-Leserin agierend. Und wir haben es hier ja auch wirklich mit einem ergreifenden, erschütternden Thema zu tun, das einen sofort – und immer wieder von Neuem – in den Bann zieht. 

1915 war es zu einer Liebesbeziehung Gertrud Kolmars mit einem Offizier Karl Jodel gekommen: Schwangerschaft, Nervenzusammenbruch, Abtreibung, Selbstmordversuch – die Autorin Inge Gleichauf enthält sich aller Spekulationen im Spielraum des Wahrscheinlichen. Aber das wurde nun ein Thema der Kolmar: das ungeborene, das verhinderte Kind. 1927 dann der Aufenthalt in Frankreich – eine Befreiung fand statt, eine Mutation. Vorbilder, Anregungen, Affinitäten spielten jetzt eine Rolle. Ein neues Kapitel der Werkgeschichte eröffnete sich: Ein Wechselspiel von Maskierung und Entblößung, Stilisierung und Selbstdarstellung findet statt, die Simultaneität oder Synchronität von Gegensätzlichem. Welche Lebensalternative hätte sich für sie ergeben, wenn sie in Frankreich geblieben wäre? Aber die Krankheit der Mutter rief sie nach Hause zurück. Sie übernahm nach deren Tod auch den Haushalt (nebst Garten und Kleintierzucht), wurde Sekretärin ihres Vaters, des preußisch-wilhelminischen Anwalts, eines Bildungsbürgers, der seine Position durch Zitate aus vorwiegend klassischer Literatur markierte. Freiwillig begab sie sich in das geläufige Muster von Erwartung und Erfüllung. Hat sich ihre Bewunderung für den Vater dann auch in der Bewunderung Napoleons niedergeschlagen?

Dieter Kühn machte kein Hehl daraus, dass er auch mit Kolmars bedingungsloser Verehrung Robespierres nichts anzufangen wusste:

Es findet ein Akt unkontrollierter Identifizierung statt mit einer Person, die jede Form des Lebensüberschwangs bestrafte, und das gleich mit dem Tode; es findet statt die Heiligsprechung eines Asketen, der jeden köpfen ließ, der nicht seinem Richtmaß entsprach, der seine Dogmen nicht akzeptierte.

Doch Ingeborg Gleichauf findet eine durchaus plausible Erklärung dafür: Am Ende des Dramas Cécile Renault (1934/35) steht Robespierre machtlos und handlungsunfähig da, er ist aus dem Gespräch ins Schweigen getreten. Auch in dem Drama Nacht (1938) weise Kolmar voraus in die dunkle Zukunft derer, „die sich werden opfern müssen und deren Opfer sinnlos sein wird“ – die Geschichte des jüdischen Mädchens Ischta wird hier verwoben mit der des Römers Tiberius, der nicht weiß, wo er hingehört. Kolmar versetze ihre Figuren in einen Raum der Einsamkeit, in dem sie anders und neu denken, sprechen und handeln müssen. Und die von bitterböser Ironie geprägte Farce „Möblierte Dame (mit Küchenbenutzung) gegen Haushaltshilfe“ (wohl 1939) ist sozusagen die Einsamste unter Kolmars großen Einsamen, denn sie hat überhaupt keine Möglichkeit, in ein Gespräch zu treten. Ihren Stücken schreibe die Dichterin ihre eigene Einsamkeit, das Gefühl des Nichtdazugehörens ihren Figuren ein. Auch in beiden Erzählungen, in Die jüdische Mutter und in Susanna (beide posthum erst 1965 und 1993 erschienen), bedient sich Kolmar ja des Topos der Jüdin als der Anderen, Fremden.

Das einzige Abenteuer, auf das sich Gertrud Kolmar bei ihrem Einsiedlerleben in Finkenkrug rückhaltlos einließ, war der Umgang mit der Sprache. Sie schrieb Gedichte von Weltrang. Bei ihr war aber die Kreativität umgeben von Hausbackenem – ganz im Unterschied zu Else Lasker-Schüler. Die lebte bis zu ihrer Emigration in der Berliner Bohème, hatte ein ganzes Netz von Künstlerfreundschaften geknüpft. Wenn Kolmar ihre Lebensweise, die freiwillige oder erzwungene Zurückgezogenheit, mit anderen Dichterinnen wie Annette von Droste-Hülshoff, Marina Zwetajewa, Emily Dickinson, Else Lasker-Schüler, Nelly Sachs, Ingeborg Bachmann, Veza Canetti und Gerlind Reinshagen geteilt haben soll, dann wären hier nähere Ausführungen erforderlich gewesen.

Ein besonderes Kapitel widmet Ingeborg Gleichauf der Briefschreiberin Kolmar, den Briefen, die sie an ihre Schwester Hilde und an ihre Nichte Sabine zwischen September 1938 und Frühjahr 1943 geschrieben hat. Nach dem erzwungenen Wegzug aus Finkenkrug schreibt diese am 1. Oktober 1939: „Vielleicht ist es auch gar nicht F., was mir fehlt, sondern eben das Bleibende. Tier und Pflanze, das Immerwiederkehrende, im Werden und Vergehen Beständige“. Nachdem es den Juden verboten wurde, Deutschland zu verlassen, bekennt sie am 26. Oktober 1941 ihrer Cousine Susanne Jung:

Glaube mir, dass ich, was auch kommen mag, nicht unglücklich, nicht verzweifelt sein werde, weil ich weiß, dass ich den Weg gehe, der mir von innen her bestimmt ist […] So viele von uns sind ihn, die Jahrhunderte hindurch, gewandert, warum sollte ich anders gehen wollen als sie!

Kolmar habe die Akzeptanz des sinnlosen, überflüssigen Opfertodes bereits literarisch eingeübt, so war die Überlegung Dieter Kühns, sie habe damit eine Tiefenperspektive geschaffen ins Mythische. Zu ihrer Trauer, zur Klage gesellte sich ein (nach außen hin stummes) Aufbegehren. Kolmar erweise sich als politisch wache Dichterin. Auch für Ingeborg Gleichauf ist Kolmar durchaus keine Dichterin der Innerlichkeit, diese lebe und dichte im Draußen. Und hier treffen die beiden Kolmar-Porträtisten:Innen wieder zusammen: Dem Sinnlosen, Sinnwidrigen, Sinnfeindlichen einen persönlichen Sinn verleihen, Selbstopferung bis zum Tod, Selbstopfertod! Aus der Ohnmacht gegenüber der Gewalt mag so ein Gefühl der Macht und Stärke geworden sein, bei der das Erdulden und Erleiden als Lebenszweck schlechthin erscheint.

Unsere Autorin weist Gertrud Kolmar als intensive Leserin aus, Rilkes Briefe aus Muzot haben sie begleitet,  ein weiterer Lieblingsautor war der mit den Eltern schon als Kind aus den USA nach Paris übergesiedelte Julien Green und sein Roman Adrienne Mesurat (1927), ein „Seelenroman“,  in dem die obsessive Liebe der Protagonistin bis zum Mord und dann in die geistige Umnachtung führt, aber auch Jean Giono und sein Roman Colline (1929), in dem die Provence ihre Geheimnisse hinter ihrer Offensichtlichkeit verbirgt, wie ihn der Verfasser verstanden wissen wollte.

Man muss mit Ingeborg Gleichauf fragen: Wer eigentlich ist das lyrische Ich in Kolmars Gedichten? Es ist die Dichterin selbst in unendlichen Verwandlungen. In ihrem Gedichtzyklus Weibliches Bildnis entwirft sie Bilder von Weiblichkeit in ungeheurer Vielfalt. „Das lyrische Ich ist unterwegs, zu immer neuen Gestalten seiner selbst, zu mutigen, rätselhaften, geschlechterüberschreitenden, gattungsüberschreitenden Formen“, so die Porträtistin. Das Wort der Stummen 1933 ist ihr emotionalster, im Ausdruck direktester, politischster, realistischster Zyklus. Sie schildert die Qualen der Körper, die unter der Folter und der Verfolgung leiden. Als um sie herum die Mauern immer größer werden, unternimmt Gertrud Kolmar in dem Zyklus Welten imaginierend Reisen in ferne Länder. Das Ich wird zu einer gigantischen „Grenzerweiterungsmaschine“. Eben auch in ihren Dramen über Robespierre und Tiberius mischen sich männliche und weibliche Zuschreibungen.

Gleichaufs Kolmar-Porträt ist mit hohem Anspruch und dennoch verständlich, nachvollziehbar, emotional ergreifend geschrieben. Wer es gelesen hat, kann einfach nicht wieder zur Tagesordnung übergehen, sondern wird nun wohl zu den Werkausgaben greifen, die Regina Nörtemann herausgegeben und mit ausführlichen Kommentaren versehen hat (Das lyrische Werk, 2003; Die Dramen, 2005; Briefe, von R. N. durchgesehen 2014). Und gerade das wollte ja Gertrud Kolmar: „Nichts als Sand in den Schuhen Kommender zu sein“.

Titelbild

Ingeborg Gleichauf: Alles ist seltsam in der Welt. Gertrud Kolmar. Ein Porträt.
AvivA Verlag, Berlin 2023.
208 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783949302145

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