Willkommen in der Hölle

In „Taormina“, dem neuen Roman des mehrfach preisgekrönten französischen Autors Yves Ravey, führt ein Urlaub zur Krisenbewältigung in ein noch größeres Dilemma

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sizilien hat er sich ausgesucht, Sizilien im April. Ob das so klug war, fragen sich die beiden Protagonisten des kleinen Romans von Yves Ravey schon kurz nach der Landung auf dem Flughafen Catania-Fontanarossa. Auf jeden Fall war es notwendig, denkt Melvil Hammett. Denn in seiner Ehe mit Luisa steht es gerade wieder einmal nicht zum Besten. Also hat er sich zu dieser Reise entschieden, einer Auszeit vom strapaziösen Alltag. Wohl soll sich die schnell genervte Gattin fühlen, an deren Professorenvater Melvil nur mit gemischten Gefühlen zu denken vermag. Offensichtlich glaubt der, dass die Ehe seiner Tochter ein Fehler war. Und sollte sie scheitern, wird der Schwiegersohn wohl der Letzte sein, auf dessen Seite sich Professor Gozzolli schlägt.

Doch Melvil Hammetts Versöhnungsprojekt steht von Anfang an unter keinem guten Stern. Auf Sizilien regnet es bei der Ankunft des Paares in Strömen. Und auf der Fahrt im Leihwagen ins gebuchte Hotel in der Touristenhochburg Taormina sieht Luisa für eine ganze Weile nicht ein Zipfelchen vom Meer. Allein genau nach dessen Anblick hat sie sich seit Monaten gesehnt. Also muss Melvil, um seine Frau nicht gleich zu Beginn der Urlaubswoche zu verärgern, von der Nationalstraße abfahren und auf einer unwegsamen Piste durch brachliegendes Land versuchen, die Küste zu erreichen.

Taormina, im Original 2022 erschienen, ist der jüngste von bisher achtzehn Romanen des 1953 in Besançon geborenen französischen Autors Yves Ravey. Der mehrfach – auch für seine viel und an renommierten Häusern gespielten Theaterstücke – ausgezeichnete Ravey arbeitete lange Jahre als Lehrer für Französisch und Kunst an einer Mittelschule seiner Heimatstadt. Hierzulande wirklich bekannt – zwei seiner Bücher erschienen bereits in deutscher Übersetzung 2012 und 2014 bei Kunstmann in München – wurde er erst mit seinem 2022 erschienenen kleinen Roman Die Abfindung. Für Taormina war der Autor für die drei wichtigsten französischen Literaturpreise nominiert. Auch an diesem Buch fällt wie bei seinem Vorgänger sofort der geringe Umfang auf. Auf wenig mehr als einhundert Seiten gelingt es dem Autor, ein komplexes Drama in Gang zu setzen, das für alle an ihm Beteiligten zu einer existentiellen Prüfung wird, einer Prüfung, die sie letzten Endes nicht bestehen.    

Denn nachdem man endlich das Meer gesehen, an einer heruntergekommenen Snackbar inmitten von Bauschutt einen Espresso getrunken hat und, da es bereits vollständig dunkel geworden ist, zurück auf die Hauptstraße Richtung Taormina fährt, erschüttert ein Aufprall plötzlich den Leihwagen. Man ist mit etwas zusammengestoßen, das so schnell im Scheinwerferlicht erschienen und sofort wieder im Dunkel verschwunden ist, dass nicht festzustellen war, um was es sich handelte. Ein Tier? Eine Markierung am Straßenrand? Eine dort abgestellte Baumaschine? Oder gar ein Mensch? Als anderntags die Medien von einem überfahrenen Flüchtlingskind berichten, ahnt Melvil Hammett, in welchem Dilemma er und seine Frau jetzt stecken.

Taormina ist aus der Perspektive seiner männlichen Hauptfigur geschrieben. Der Verfasser schlüpft mit dieser künstlerischen Entscheidung in die Gedankenwelt eines Menschen, der alles andere als sympathisch erscheint. Nachdem ihm endlich klargeworden ist, welche Schuld er in der Nacht seiner Ankunft auf Sizilien auf sich geladen hat, spielt Melvil zwar für eine Weile mit dem Gedanken, sich den auf der Insel zuständigen Organen zu stellen und für die Folgen seiner Tat einzustehen, findet dann aber immer wieder Argumente, mit denen er sich der Verantwortung entziehen kann. Allein dass niemand sie in jener Nacht gesehen hat, als sie nach dem harten Aufprall kurz hielten, dann aber wegen des starken Regens, der eingesetzt hatte, nicht ausstiegen, sondern weiterfuhren, rechtfertigt er mit dem Argument, dass dem toten Kind, wenn es sich denn überhaupt um ein Kind und nicht um einen streunenden Hund gehandelt habe, sowieso nicht mehr zu helfen gewesen wäre. Und außerdem sei doch wohl klar, „dass die Polizei nicht Himmel und Hölle in Bewegung setzen wird wegen eines fremden Kindes, das niemand kennt, das gerade erst ins Land gekommen war“.

Wie geht es also weiter? Mit Urlaub genau nach dem Plan, den man sich vorher zurechtgelegt hat, Sehenswürdigkeiten statt Selbstvorwürfen, Agrigent und Syrakus statt Polizeistation und Kommissariat. Nur der Wagen zeugt immer noch von dem Unglück jener ersten Nacht. Also lässt sich Melvil von einem hilfsbereiten Hotelangestellten eine diskrete Karosseriewerkstatt empfehlen, in der die Schäden des Zusammenstoßes innerhalb eines Tages zum Verschwinden gebracht werden sollen. Eine fatale Entscheidung, denn alle möglichen, sich verständnisvoll und hilfsbereit gebenden Menschen bis hin zu zwei Streifenpolizisten beginnen nun, die für das Ehepaar immer brenzliger werdende Situation für sich auszunutzen. Hilfe? Nur zu gern. Aber die kostet. Und sie kostet umso mehr, je enger sich die Schlinge um die beiden Hammetts zusammenzieht. Mit welch genialer Ironie der Autor diese missliche Situation schließlich auflöst, soll an dieser Stelle nicht vorweggenommen werden.

Ravey ist mit seinem kleinen Roman nach Die Abfindung erneut ein Coup gelungen. Mit ihrem unaufgeregten, aufs Äußerste verdichteten Berichtsstil führt diese etwas andere Reiseerzählung in die seelischen Abgründe von zwei Menschen unserer Tage. Melvil und Luisa Hammett sind Europäer in einer doppelten Krise. Dass es in ihrer Ehe nicht mehr stimmt, kann auch die spontane Reise nach Sizilien letzten Endes nicht korrigieren. Stattdessen vertieft der tragische Zwischenfall am Reisebeginn noch, was mithilfe exotischer Erlebnisse in einer fremden Umgebung aus der Welt geschafft werden sollte.

Das persönliche Dilemma des von Ravey vorgeführten Paares besitzt aber auch noch eine gesellschaftliche Dimension – denn Melvil und Luisa stehen nicht zuletzt für die vielen egoistisch denkenden Bürger eines Kontinents, auf dem man glaubt, in den derzeitigen weltpolitischen Krisen immer so weitermachen zu können wie bisher. Was Letzteres betrifft, so könnte das, was am Romanschluss schließlich angedeutet wird, kaum eindeutiger in seiner Kritik sein.

Titelbild

Yves Ravey: Taormina. Roman.
Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller.
Liebeskind Verlagsbuchhandlung, München 2023.
112 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783954381685

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